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Der Himmel ist kein Ort

Der Himmel ist kein Ort

Titel: Der Himmel ist kein Ort Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dieter Wellershoff
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lockigen braunen Haaren – mit achtzehn den zwanzig Jahre älteren Karbe geheiratet
     hatte. Sie war damals Schülerin an derselben Schule, an der Karbe Lehrer war. Und anscheinend war sie schwanger gewesen, als
     sie geheiratet hatten. Zwei Tage vor ihrem Tod war sie 26 Jahre alt geworden. Karbe war inzwischen 46 Jahre alt, sah allerdings,
     wie er ihm dort gegenübersaß, wesentlich älter aus. Er war schon einmal einige Jahre verheiratet gewesen. Diese Ehe war kinderlos
     geblieben und offenbar gescheitert. Er erzählte nicht, woran, und ging ohne Interesse über diesen Abschnitt seines Lebens
     hinweg. Auch über seine Kindheit erzählte er nichts, |104| nur dass er keine Familie mehr habe, weder Eltern noch Geschwister, also von seiner Seite niemand zur Beerdigung kommen werde.
    Die Stimme, mit der er diese Einzelheiten berichtete, hatte lustlos geklungen, als spräche sie von einem anderen, nur aktenkundigen
     Leben, über das nichts wirklich Persönliches bekannt war, sodass auch er, der Zuhörer, aufgegeben hatte, weitere Fragen zu
     stellen.
    Über den Jungen hatten sie überhaupt nicht mehr gesprochen, fiel ihm ein, als er schon gegangen war. Er hatte es aber nicht
     bewusst vermieden, sondern es in der Angst vor einem neuen heftigen Ausbruch Karbes instinktiv umgangen wie eine unkalkulierbare
     Gefahr. Im Grunde konnte er nichts anfangen mit diesen biografischen Daten. Es war nichts darunter, was er für seine Trauerrede
     gebrauchen konnte, und erst recht nichts, was ihm einen tieferen Einblick in das Geschehen der Unglücksnacht gab und ihn von
     der quälenden Unsicherheit befreite, es ständig und nahezu gleichzeitig so oder so zu sehen. Konnte das Behüten, von dem Karbe
     gesprochen hatte, im Extremfall auch bedeuten, geliebte Menschen den Versuchungen und Irrungen eines falschen Lebens zu entziehen?
     Auch das war möglich. Er konnte es nicht zurückweisen. Während seines ganzen Besuches hatte er nicht erkennen können, ob Karbe
     ihm etwas verschwiegen hatte oder nicht fähig war, sich zu äußern, weil sich ihm selbst alles verwischt und verdunkelt hatte,
     und allmählich hatte sich seine Verärgerung erneut zu einer Abneigung ausgewachsen, die er nur mühsam beiseiteschieben konnte,
     um Karbe wieder |105| als einen Menschen zu sehen, dem ein schlimmes Unglück geschehen war. Schließlich ging er, nachdem er zuvor auf seine Uhr
     geschaut hatte, als erinnere er sich an seinen nächsten Termin und merke, dass er aufbrechen muss.
    »Es wird allmählich Zeit für mich«, hatte er gesagt.
    Aber das stimmte nicht. Die abendliche Sitzung des Presbyteriums im Gemeindehaus begann erst in drei Stunden. Nur seine Unzufriedenheit
     hatte ihn veranlasst, diese Formulierung zu wählen. Sie war sein Angebot an Karbe, noch einige Minuten zu bleiben, falls er
     ihm noch etwas zu sagen habe. Aber Karbe hatte nichts hinzugefügt.
    Daraufhin war er aufgestanden und hatte in fürsorglichem Ton gesagt: »Gehen Sie ein bisschen an die frische Luft, Herr Karbe.
     Das wird Ihnen guttun. Und rufen Sie mich an, wenn es etwas zu besprechen gibt. Ich werde es auch tun.«
    Karbe hatte genickt und war in der Diele hinter der Haustür stehen geblieben, ein Höhlenbewohner, der es scheute, aus seiner
     Verborgenheit hervorzutreten. Wollte er die Dunkelheit abwarten, bevor er das Haus verließ? Wahrscheinlich fürchtete er Fragen
     oder die Blicke der Nachbarn, die ihm aus dem Weg gingen.
    Auch er fühlte sich beobachtet, während er zu seinem Wagen ging und die Tür aufschloss. Er setzte sich auf dem Sitz zurecht,
     legte den Gurt an und steckte den Schlüssel in das Zündschloss, ohne zu starten. Im Augenblick schien sich alles verflüchtigt
     zu haben, was ihn ans Leben band. Es war vielleicht |106| nur die Anstrengung, die er immer wieder aufbrachte, um weiterzumachen. Die Anstrengung, als jemand aufzutreten, der er nicht
     war.
     
    Als er in sein Büro zurückkam, war Frau Meschnik schon nach Hause gegangen, hatte aber die Unterlagen für die abendliche Sitzung
     des Presbyteriums für alle kopiert und bereitgelegt. Nachher, wenn er von der Sitzung zurückkam, wollte er die Küche aufräumen.
     Er machte das von Fall zu Fall, wenn ihm auffiel, dass die Unordnung bedenkliche Ausmaße angenommen hatte, vor allem wenn
     seine Zugehfrau, die einmal in der Woche kam, um aufzuräumen, zu putzen, Wäsche zu waschen und seine Hemden zu bügeln, wieder
     einmal krank war. Er war unfähig, sich auf die alltäglichen Dinge zu

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