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Der Himmel ist kein Ort

Der Himmel ist kein Ort

Titel: Der Himmel ist kein Ort Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dieter Wellershoff
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Vielleicht hätte ich Ihnen sonst auch nicht schreiben können. Morgen
     fahre ich nach Hamburg zurück. Falls Sie mir irgendwann schreiben wollen, was ich mir sehr wünsche, aber nicht verlangen kann,
     hier noch meine Adresse.«
    Sie wohnte in der Ottersbekallee. Die Straße war ihm unbekannt, wie fast alles.
     
    Er legte den Brief beiseite und starrte vor sich hin. Sein Kopf war gedankenleer. Während des Lesens hatte sich Satz für Satz
     etwas Schillerndes, Phantastisches vor ihm aufgebaut, das sich gleich danach wieder zurückgezogen hatte und ungreifbar geworden
     war, wie eine Luftblase. Der Sinn war noch dort in dem Brief, |91| der vor ihm auf dem Tisch lag. Aber er glaubte nicht, dass er ihn dort wiederfinden konnte, wenn er den Brief zum zweiten
     Mal las. Vielleicht wurde dann alles sofort trivial. In einer merkwürdigen Unersättlichkeit hatte er die Worte in sich eingesogen.
     Noch nie hatte jemand so zu ihm gesprochen, mit solcher Offenheit und so viel Mut. Aber als wäre er von einer fremden Kraft
     aus den Angeln gehoben und herumgeschleudert worden, wusste er nicht mehr, woran er mit sich war. Es war jedoch nur ein Augenblick.
     Während er auf den beiseitegelegten Brief starrte, sammelten sich wieder die aktuellen Probleme an, in die er verstrickt war
     – vor allem der morgige Besuch bei Karbe, die Presbyteriumssitzung und die Tagung in der Akademie, für die er einen Beitrag
     formulieren musste oder wollte –, und in einem widersprüchlichen Gefühl von Erleichterung und Enttäuschung sprach er ihnen
     den Vorrang zu.

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|92| IV
    DER ORT IMHOVEN, in dem Karbe wohnte, war zwar nur halb so groß wie die Pfarrgemeinde Hüngsbach, aber auch schon lange kein
     richtiges Dorf mehr. Früher hatte Imhoven zusammen mit dem Nachbardorf Röttgen eine eigene Gemeinde gebildet. Vor acht Jahren
     waren die drei Ortschaften aus Kostengründen zur Gemeinde Hüngsbach zusammengeschlossen worden, nicht zuletzt auch, weil trotz
     des Zuzugs aus der Stadt die Zahl der Gemeindemitglieder geschrumpft war. Karbe wohnte im Buchenweg 9, ein Straßenname, der
     ihm nichts sagte und sich, als er ihn nach einigem Herumkurven in der wie ausgestorben wirkenden Ortschaft plötzlich auf einem
     Straßenschild las, als grundlos herausstellte, denn Buchen waren hier nicht zu sehen. Es handelte sich um eine kurze Stichstraße
     mit kleinen, weiß oder sandfarben verputzten Reihenhäusern und winzigen Vorgärten mit struppigen Rasenflächen, durch die Wege
     aus grauen Betonplatten zu den Haustüren führten, die meistens ein flaches Vordach hatten und eine Stufe höher lagen als der
     Plattenweg. Vorne, direkt an der Straße, standen in einer Vertiefung Mülltonnen aus schwärzlichem Kunststoff, einige umgeben
     von einer |93| niedrigen Hecke, die er erst jetzt als Buchenhecken identifizierte.
    Er hatte sein Auto auf einem Parkstreifen neben dem abschließenden Wendekreis abgestellt und war zum Haus Nr. 9 zurückgegangen.
     Karbe. Der handgeschriebene Name auf dem Klingelschild war so verblasst, dass er nah herangehen musste, um ihn lesen zu können.
     Hier also. Kurz und fest drückte er auf den Klingelknopf. Einige Zeit verging, bis die Tür sich zögernd öffnete. Im Türspalt
     zeigte sich Karbe, eine fremde Gestalt, die er im Augenblick nicht wiedererkannte. Mit seinem blassen, wohl seit Tagen unrasierten
     Gesicht und seinen entzündeten Lidrändern schien er aus einem höhlenhaften Hintergrund und nächtelanger Schlaflosigkeit hervorgetreten
     zu sein.
    »Guten Tag, Herr Karbe«, sagte er, mit dem durchdringenden Gefühl, falsch anzufangen, mit falschen Worten, im falschen Ton.
    »Kommen Sie herein«, murmelte Karbe und zog die Tür ein Stück weiter auf.
    An ihm vorbei trat er in eine kleine Diele, sah links eine Treppe, die nach oben führte, und gegenüber an der Garderobe, wie
     die Vision einer im Schock stehen gebliebenen Zeit, eine rote Kinderjacke und einen Mantel, der offenbar Kerstin Karbe gehört
     hatte. Die Kleidungsstücke hingen dort so selbstverständlich, als könnten die beiden Personen gleich die Treppe herunterkommen.
     Im Garderobenspiegel sah er unvollständig sich selbst und daneben Karbe, dessen steiler Schädel hinter ihm auftauchte.
    |94| »Bitte«, sagte Karbe und wies auf die rückwärtige Tür.
    Etwas sperrte sich in ihm, ein unbestimmter Widerstand gegen die fremde Situation, und er bat Karbe vorzugehen. Das an die
     Diele angrenzende Wohnzimmer war ein fast quadratischer Raum mit

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