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Der Himmel ist kein Ort

Der Himmel ist kein Ort

Titel: Der Himmel ist kein Ort Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dieter Wellershoff
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zusammen.
     
    Er war immer noch erregt, als er einige Minuten später seine Haustür aufschloss und Post vom Boden aufhob, die der Bote, umwickelt
     mit einem dünnen Gummiband, durch den Türschlitz geschoben hatte. Während er sich danach bückte, hörte er oben in seiner Wohnung
     das Telefon klingeln. Als er ein wenig außer Atem oben ankam und in seinen Taschen hastig den Schlüssel suchte, hörte das
     Klingeln auf. Karbe war es nicht gewesen. Auf dem Display stand eine Nummer, die er nicht kannte. Die Zimmerluft war stickig.
     Er zog die Gardine beiseite und öffnete das |85| Fenster. Aber auch die Außenluft war inzwischen drückend warm. Er goss sich ein Glas Wasser ein und trank. Bevor er die Post
     anschaute, wollte er noch einmal Karbe anrufen. Er war darauf gefasst, wieder die Litanei der Frauenstimme zu hören, aber
     diesmal kam nur das Rufzeichen, ohne dass sich jemand meldete. Er wollte gerade ausschalten, als Karbe abhob. Seine Stimme
     klang belegt, wie die eines Menschen, der lange nicht mehr gesprochen hatte und aus tiefer Versunkenheit aufgeschreckt worden
     war.
    »Hier ist Karbe«, sagte er, als sei das alles, was es seinerseits zu sagen gab.
    »Gut dass ich Sie erreiche, Herr Karbe. Ich hab in den letzten Tagen vergeblich versucht, Sie anzurufen. Ihr Telefon war abgestellt.
     Wie müssen aber dringend in nächster Zeit miteinander sprechen.«
    Es kam keine Antwort, sodass er fragte: »Sind Sie noch dran, Herr Karbe?«
    »Worum geht es?«, fragte die heisere schleppende Stimme.
    »Wir müssen miteinander reden. Es gibt einiges zu besprechen und zu tun.«
    Wieder hörte er nichts. Es war nicht klar, ob dieses Schweigen Misstrauen ausdrückte oder Benommenheit war. Vielleicht war
     es auch eine tiefe Depression. Es schien nicht möglich, von diesem erstarrten Menschen eine Antwort zu bekommen. Deshalb sagte
     er, so eindrücklich, wie es ihm möglich war: »Hören Sie mir jetzt bitte zu, Herr Karbe. Ich komme morgen am frühen Nachmittag
     zu Ihnen, um mit Ihnen einige wichtige Fragen zu besprechen. Glauben Sie mir |86| bitte, dass das in Ihrem Interesse geschieht. Seien Sie also bitte da.«
    Er hörte nichts. Auf der anderen Seite ihrer Verbindung schien sich die Zeit viel langsamer und zäher zu bewegen. Unterbrochen
     war das Gespräch nicht.
    »Hören Sie bitte, Herr Karbe. Ich komme morgen am frühen Nachmittag zu Ihnen. Um mit Ihnen zu reden. Werden Sie da sein? Am
     frühen Nachmittag? Sagen wir um 15 Uhr?«
    »Ja«, sagte Karbe.
    Die Stimme schien von so weit her zu kommen, dass er nicht sicher war, sie gehört zu haben.
    Kurz danach – er war gerade dabei, die Post durchzublättern – klingelte das Telefon wieder. Es war Frau Meschnik, die zum
     zweiten Mal aus ihrem Hotel anrief, um ihm zu sagen, dass sie morgen am frühen Nachmittag wieder im Büro sei, um eventuelle
     letzte Vorbereitungen für die morgen Abend stattfindende Sitzung des Presbyteriums treffen zu können. In der Post hatte er
     die Unterlagen einer jungen Frau gefunden, die sich für die ausgeschriebene Stelle einer Kindergärtnerin im Gemeindekindergarten
     bewarb. Außerdem lag das bestellte amtliche Gutachten über den Sanierungsbedarf bei den Rostschäden im Glockenstuhl vor. Beides
     musste noch fotokopiert und den Unterlagen für die Besprechung hinzugefügt werden.
    »Und haben Sie mit Karbe gesprochen?«, fragte Frau Meschnik.
    »Das ist für morgen Nachmittag verabredet«, sagte er. »Endlich habe ich ihn erreichen können. Das war nicht einfach. Er scheint
     sich völlig verkrochen zu haben. |87| Über die polizeilichen Untersuchungen ist noch nichts weiter bekannt.«
    »Hier hat auch etwas in der Zeitung gestanden«, sagte sie. »Kein richtiger Artikel, aber eine längere Meldung. Die Sache zieht
     Kreise.«
    »Offenbar«, sagte er und fragte, wie die Hochzeit gewesen sei.
    »Viele Gäste, zu viel zu essen und zu viel zu trinken«, sagte sie, »aber sonst sehr nett.«
    Es war der vertraute Tonfall einer Frau, die immer zugleich innerhalb und außerhalb des Lebens zu stehen schien.
    Als er die restliche Post durchblätterte, stieß er auf einen Briefumschlag aus leicht getöntem, festem Papier, auf dem in
     brauner Tinte und in einer großen, stürmischen Schrift sein Name stand, der ihm in dieser ungewohnten Form wie der Name einer
     fremden Person erschien. Im Absender las er den Namen einer Frau, den er nicht kannte und auch beim ersten Nachdenken nicht
     in seinem Gedächtnis finden konnte. Luiza

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