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Der Himmel ist kein Ort

Der Himmel ist kein Ort

Titel: Der Himmel ist kein Ort Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dieter Wellershoff
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Wie
     sollte er mit diesem Repertoire die Trauerrede bestreiten? War es nicht tatsächlich besser, die Trauerrede jemand anderem
     zu überlassen?
    Er sah Karbe an. Wer war dieser verstörte, undurchschaubare Mensch, der ihm diese Prüfung auferlegte? Wieso stieß er ihn in
     diesen Wirbel widersprechender Gefühle? Konnte man ihn abstoßend finden, ihn verdächtigen und trotzdem mit ihm solidarisch
     sein?
    Er griff nach seiner Kaffeetasse, in der nur noch Bodensatz stand.
    »Möchten Sie noch Kaffee?«, fragte Karbe. »Dann brühe ich noch welchen auf.«
    »Nein, danke«, sagte er, denn er war damit beschäftigt, eine Antwort zu suchen auf Karbes schroffe, abweisende |101| Worte, von denen er sich empfindlich getroffen fühlte. Schließlich sagte er:
    »Mit Glauben und Unglauben ist das nicht so einfach. Ich meine jetzt nicht irgendeine Buchstabengläubigkeit. Das ist sowieso
     Unsinn. Der Glaube ist kein sicherer Besitz, sondern etwas Seltenes: die Gnade einer umfassenden Antwort. Aber Gott gibt die
     Antworten nicht. Er stellt nur die Fragen. Beantworten müssen wir sie selbst.«
    »Was soll ich damit anfangen?«, sagte Karbe. »Sind alle Antworten gleich?«
    »Nein, alle sind verschieden, doch jede ist einzigartig. Und das Gebot der Nächstenliebe lautet auch: Du sollst die Einzigartigkeit
     des Anderen verstehen.«
    »Das habe ich anders gelernt«, sagte Karbe.
    »Wie denn?«, fragte er.
    »Wie es im Glaubensbekenntnis steht. Da wird von Christus behauptet, dass er zur Rechten Gottes thront. Und dann, das hat
     sich mir eingeprägt, heißt es: ›von dannen er kommen wird, zu richten die Lebenden und die Toten‹.«
    »Das ist eine spätere autoritäre Umdeutung des Christentums. Sie müssen das anders sehen: Alle Menschen sind schon bestraft
     für ihr Leben in ihrem Leben. Und durch ihren Tod. Und alle sind erlöst durch Christus.«
    Karbe schaute ihn nachdenklich an. Dann sagte er: »Sie haben Ihre Predigt ja schon fertig.«
    »Nein, ich weiß nicht, was ich sagen werde. Ich möchte Ihnen ja auch nahekommen. Und ich weiß noch zu wenig über Sie.«
    |102| Karbe schwieg und ließ in ihm das heftige Bedürfnis entstehen, zu reden, unentwegt zu reden und diese dunkle Leere mit Worten
     auszufüllen. Karbe dagegen schien sich nicht bewusst zu sein, dass er schwieg. Seine Stummheit zehrte nicht an ihm, da sie
     vielleicht nur Betäubung war. Auch er musste jetzt versuchen, dieses Schweigen durchzuhalten, selbst wenn sich darin alles,
     was er gesagt hatte, wieder auflöste.
    Schräg hinter Karbes eigensinnigem Kopf sah er die Galerie der Familienfotos, fremde Menschen, erstarrt in ihren Posen, verschlüsselte
     Zeichen einer vergangenen Zeit.
    »Ich glaube an den strengen alten Gott«, sagte Karbe, »wenn überhaupt.«
    Damit stand er auf und sagte: »Ich mache doch noch einen Kaffee.«
    »Gut«, antwortete er, »wenn Sie erlauben, schaue ich mir inzwischen mal die Fotos an.«
    Vielleicht bot sich so doch noch eine Gelegenheit, näher an Karbe heranzukommen, um wieder einen festeren Stand zu gewinnen
     bei all den kritischen Gesprächen und den schwierigen Situationen, die ihm in der nächsten Zeit bevorstanden. Eins der älteren
     Fotos berührte ihn am meisten. Da stand Kerstin Karbe in einem hellen Kleid auf einer Wiese, neben sich den kleinen, vielleicht
     drei- oder vierjährigen Jungen, der sich an sie schmiegte, während sie mit einer Hand seinen Kopf an ihre Hüfte zog. Ihr Gesicht
     allerdings war ohne besonderen Ausdruck. Das übliche Lächeln in die Kamera hatte sie jedenfalls vermieden. Aber was hieß das
     schon?
    |103| Als Karbe mit seiner Thermoskanne hereinkam und mit sichtlich unsicherer Hand ihm und sich selbst neuen Kaffee eingoss, sagte
     er beiläufig: »Die Fotos gefallen mir. Sie wirken einfach und liebevoll.«
    Karbe antwortete ihm nicht, als er die Kanne auf den Tisch stellte und sich wieder wie vorher ihm gegenüber setzte. Er blickte
     gedankenverloren vor sich hin. Schließlich sagte er leise, ohne ihn anzublicken: »Ich habe sie beide immer behüten wollen.«
    Das Wort traf ihn. Er fühlte sich wegen seiner eigenen Zweifel beschämt, konnte aber nur nicken und leise Ja sagen.
     
    Er blieb noch eine halbe Stunde, in der das Gespräch, das seine untergründige Spannung verloren hatte, doch noch eine Wendung
     ins Biografische nahm. Er erfuhr, dass Kerstin Karbe – auf den Fotos erst ein junges Mädchen, später eine hübsche, ein wenig
     melancholisch aussehende junge Frau mit

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