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Der Himmel ist kein Ort

Der Himmel ist kein Ort

Titel: Der Himmel ist kein Ort Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dieter Wellershoff
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Suarez hieß sie, ein Name, den er sich wohl gemerkt hätte, wenn er ihm schon einmal
     begegnet wäre. Er schlitzte den Umschlag mit dem Küchenmesser auf und setzte sich mit den entfalteten Briefbögen in einen
     Sessel. Was soll es schon sein, dachte er.
    »Lieber Herr Pfarrer Henrichsen«, las er. Die Anrede war gut zwei Finger breit vom Text des Briefes abgesetzt, ein Abstand,
     der ihm wie ein tiefes Atemholen erschien, bevor die Schreiberin in den Strom ihres Briefes hineingeglitten war.
    »… dieser Brief ist ein einziges Fragezeichen. Ich |88| habe mich gefragt, ob ich überhaupt berechtigt bin, Ihnen zu schreiben, und diese Frage nicht beantworten können. So habe
     ich sie einfach beiseitegeschoben, weil mein Wunsch, Ihnen zu schreiben, stärker war als meine Bedenken. Ich sagte mir, es
     wird nicht falsch sein, meiner Intuition zu folgen. Sie ist wahrer und ehrlicher als die Konvention. Und doch habe ich Angst,
     Sie könnten mich missverstehen und sich gegen mich verschließen.
    Sie wissen natürlich noch immer nicht, wer Ihnen hier schreibt. Doch ich bin sicher, Sie werden sich an mich erinnern. Wir
     haben uns heute bei einem Hochzeitsfest am Tisch gegenübergesessen, und seitdem …«
    Er ließ den Brief sinken und starrte vor sich in das Zimmer, um sich der unveränderten Umgebung zu vergewissern. Er war hier.
     Er saß in seinem Sessel, und eine fremde Frau, wesentlich älter als er, hatte ihm diesen Brief geschrieben, den er in der
     Hand hielt. Das feste, wahrscheinlich teure Papier war mit ihrer heftigen, ausgreifenden Schrift bedeckt, der Spur ihrer eilenden
     Hand, die er zu sehen glaubte, wie sie unaufhörlich ihren Gedanken folgte. Sie selbst sah er nur noch schattenhaft, sagte
     sich, dass sie dunkle Augen hatte. Aber das verschwand gleich wieder, denn er las schon weiter:
    »… und seitdem sind Sie in meinen Gedanken. Ich möchte Sie kennenlernen, mit Ihnen reden. Sie wissen, es hat einen langen
     Moment gegeben, in dem sich unsere Blicke getroffen haben und einander nicht ausgewichen sind. Ich empfand es als ein Vertrautsein, |89| das sich auf nichts stützen konnte und doch so überzeugend war, dass es mir jede Angst nahm.
    Doch jetzt, indem ich Ihnen schreibe, bekomme ich Angst, alles falsch zu sehen. Vielleicht ist Ihnen der kostbare Augenblick
     unseres Blickwechsels längst wieder fremd geworden. Ich wünsche es mir nicht, aber ich würde es verstehen. Als ich Sie sah,
     inmitten all der anderen Menschen, musste ich denken: Das ist ein Mensch, der auf der Suche nach der Wahrheit ist und auf
     der Suche nach sich selbst. Das hat mich ungeheuer angezogen. Ich habe gedacht, ich war eingebildet genug zu glauben, dass
     ich aus der Erfahrung einer gerade durchgemachten tiefen Veränderung Ihnen etwas von dem geben könnte, was Sie suchen.
    Vor einem halben Jahr habe ich meinen Mann in Argentinien verlassen, weil die Ehe für mich ein Gefängnis war. Ein Gefängnis
     mit vergoldeten Wänden. Ich bin in Argentinien geboren, aber zweisprachig in einer deutschstämmigen Familie aufgewachsen.
     So habe ich glücklicherweise gleich eine Arbeit im argentinischen Konsulat in Hamburg gefunden. Ich habe auch eine kleine,
     erst notdürftig eingerichtete Wohnung. Aber ich schwebe noch zwischen beiden Welten. Das habe ich auch ganz stark bei der
     Hochzeitsfeier empfunden, zu der ich dank meiner weitläufigen Verwandtschaft mit der Familie des Bräutigams eingeladen worden
     bin, weil man glaubte, sich um mich kümmern zu müssen. Das war sicher sehr freundlich. Aber ich habe mich keineswegs zu Hause
     gefühlt, bis ich Sie sah, einen Menschen, dem es anscheinend ähnlich erging. Ja, ich möchte Ihnen gerne |90| mehr über mich erzählen und auch Sie nach Ihrem Leben fragen. Aber vielleicht würden wir auch über ganz andere Dinge sprechen.
     Ich möchte Sie jedenfalls wiedersehen, hier in Hamburg oder an irgendeinem anderen Ort, den Sie vorschlagen. Sie sollten sich
     aber nicht bedrängt fühlen. Wenn Sie Nein sagen, verstehe ich das auch und werde weiter an Sie denken in der Erinnerung an
     einen offenen, wunderbaren Augenblick,
    Ihre Luiza Suarez.«
    Es folgte noch eine Nachschrift:
    »Sie sehen am Briefpapier, dass ich Ihnen aus dem Hotel schreibe. Ich habe bald nach Ihnen die Gesellschaft verlassen und
     bin in mein Zimmer gegangen, um mit meinen Gedanken allein zu sein. Unten, im großen Ballsaal, wird getanzt. Ich kann leise
     die Musik hören und schwebe ein wenig in Unwirklichkeit.

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