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Der Himmel ist kein Ort

Der Himmel ist kein Ort

Titel: Der Himmel ist kein Ort Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dieter Wellershoff
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reden, Herr Karbe«, sagte er leise. »Sie wissen vielleicht, wie die Stimmung im Ort und in der Gemeinde
     ist. Ich möchte gerne diesem Gerede entgegentreten. Aber dazu wäre es gut, wenn Sie mir etwas mehr erzählten.«
    »Worüber?«
    »Über die Unglücksnacht. Und auch etwas über sich selbst und Ihre Frau.«
    »Sie wissen doch sicher alles«, sagte Karbe.
    »Nein, ich glaube nicht.«
    Er machte eine Pause.
    »Ich möchte gerne etwas festeren Boden unter den Füßen haben.«
    »Alles, was ich weiß, habe ich der Polizei gesagt.«
    Das klang trotzig. Aber dann fügte er leise hinzu: »Ich kann mich kaum noch erinnern.«
    »Mir haben Sie gesagt, Sie seien von einem entgegenkommenden Auto geblendet worden und hätten ausweichen müssen. Fuhr das
     andere Fahrzeug auf Ihrer Straßenseite?«
    »Ich glaube. Ich weiß es nicht mehr.«
    »Herr Karbe, Sie wissen sicher, dass sich viel um die Frage dreht, wieso Sie sich retten konnten. Wie ist Ihnen das geglückt?«
    |98| Karbe stöhnte auf. Dann sagte er wieder: »Ich weiß es nicht.«
    Vielleicht stimmte das. Es war jedenfalls vorstellbar. Es klang glaubhaft. Aber es war auch, falls es sich anders verhielt,
     die beste mögliche Verteidigung. Niemand konnte Karbe beweisen, dass er mehr wusste, als er eingestand. Es war eine kaum zu
     erschütternde Position.
    Es sei denn, man zwang ihn, sich vorzustellen, was in dem versinkenden Auto geschehen war. Wenn er nicht schuldig war, durfte
     man das nicht. Wenn er aber leugnete und sich vielleicht vor sich selber in diesem selbst erzeugten Dunkel verbarg? Durfte
     man ihn dann nötigen, sich die Todesangst seiner Frau und seines Kindes vorzustellen, während sie noch eine Weile in einer
     Luftblase geatmet hatten, bevor der Wagen ganz unter Wasser sank und sie ertränkte?
    Er schaute Karbe an und traf auf dessen ausweichenden Blick. War das Schuldgefühl? Verlogenheit? Auch die Fotos hinter ihm
     auf der Kommode gaben keine Auskunft. Es waren Allerweltsfotos eines vergangenen Familienglücks. Auffallend viele. Aber es
     war niederträchtig, darin eine Inszenierung zu sehen.
    »Haben Sie etwas über den Zustand Ihres Jungen gehört?«, fragte er.
    Karbe blickte auf und gleich wieder weg.
    »Der Junge …«, sagte er.
    Plötzlich schluchzte er auf und wurde am ganzen Körper von einem krampfigen Erschauern geschüttelt.
    |99| »Der Junge …«, begann er wieder. Aber er konnte nicht sprechen.
    »Entschuldigung«, flüsterte er, immer noch mit gesenktem Blick. Jemand, der seine Fassung suchte.
    Sie saßen sich stumm gegenüber, Karbe in sich zusammengesunken, er selbst hilflos, mit dem beschämenden Gefühl unerlaubter
     Zeugenschaft.
    Schließlich sagte er: »Herr Karbe, ich ahne, wie schwer das alles für Sie ist. Ich will Ihnen so gut es geht beistehen, vor
     allem auch bei der Beerdigung. Deshalb bin ich hier.«
    Karbe antwortete nicht, außer durch ein kaum merkliches Nicken. Wieder war ihr Gespräch abgerissen, und er musste einen neuen
     Anfang finden.
    »Ich werde auch noch Ihre Schwiegereltern besuchen«, sagte er.
    Obwohl er das nicht beabsichtigt hatte, hörte es sich an, als wollte er herausstreichen, was er alles zur Vorbereitung der
     Beerdigung unternehmen werde. Das wurde ihm allerdings erst bewusst, als Karbe kurz und abweisend sagte: »Tun Sie das.«
    »Wie meinen Sie das?«, fragte er.
    Karbe zuckte die Achseln: »Wie ich es gesagt habe.«
    Dann fügte er hinzu: »Sie werden da nichts Gutes über mich zu hören bekommen. Meine Schwiegereltern halten mich für schuldig
     am Tod ihrer Tochter. Aber das tun ja alle. Sie doch sicher auch, wenn Sie ehrlich sind.«
    Die Heftigkeit, mit der Karbe das gesagt hatte, erschreckte ihn.
    |100| »Ich habe nie von Schuld gesprochen«, sagte er. »Aber wenn Sie kein Vertrauen zu mir haben und lieber einen anderen Pfarrer
     für die Beerdigung wollen, dann lässt sich das wohl noch einrichten.«
    »Sie wollen es also nicht übernehmen?«, fragte Karbe.
    »Doch, ich tue es, weil es meine Pflicht ist. Aber ich brauche Ihr Vertrauen.«
    »Ich weiß nicht, was Sie meinen«, sagte Karbe. »Ich bin nicht gläubig. Für mich sind das bloß Rituale. Hauptsache, es dauert
     nicht lange. Sonst weiß ich nicht, wie ich das durchstehen soll.«
    Das Gespräch stockte und schien schon zu Ende zu sein. Obwohl er jetzt sagen konnte: Sie werden das durchstehen. Ich werde
     Ihnen helfen. Und ähnliche Worte aus dem Fundus einer trivialen Psychologie, der jedes Heilsversprechen genommen war.

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