Der Himmel ist kein Ort
bevor sie ihm ihren Apparat übergab.
Ein höflicher, nach der Stimme zu urteilen junger Mann stellte sich als Mitarbeiter des regionalen Fernsehens vor. Er war
mit einem Team im Ort, um eine Reportage über den Unfall am Baggersee, den gegenwärtigen Stand der Ermittlungen und die Reaktion
der Bevölkerung zu drehen. Er hatte erfahren, dass er in der Nacht am Unfallort gewesen sei, und bat darum, ihm ein paar Fragen
stellen zu dürfen.
»Am Telefon?«, fragte er.
»Nein, wir würden zu Ihnen kommen und ein paar Aufnahmenmachen, wenn Sie so freundlich wären, uns einen Termin zu geben. Es
dauert nicht lange. Höchstens zwanzig Minuten, dann sind wir wieder weg.«
»Wollen Sie gleich kommen?«, fragte er.
»Das geht leider nicht«, sagte die Stimme. »Für den Vormittag haben wir schon zwei Termine. Unter anderem mit den Eltern,
die Strafantrag gestellt haben. Aber wir hätten sehr gerne auch Ihre Meinung. Ginge es nicht am Nachmittag?«
|156| Konnte er jetzt noch Nein sagen? Oder musste er sich jetzt exponieren? War es denn überhaupt seine Aufgabe, in dieser undurchschaubaren
Wirrnis Stellung zu beziehen?
»Heute Nachmittag habe ich Konfirmandenunterricht und anschließend Sprechstunde für Gemeindemitglieder mit mehreren Anmeldungen.«
»Ginge es denn anschließend oder morgen früh?«
»Sie machen sich zu viele Umstände«, sagte er. »Ich habe nicht viel beizutragen.«
»Das sehe ich aber ganz anders, Herr Pfarrer. Sie sind für uns eine sehr wichtige Stimme.«
Das war es, wovor Frau Meschnik ihn gewarnt hatte. Nun konnte er nicht mehr zurück.
»Gut«, sagte er, »kommen Sie um 16.30 Uhr. Dann habe ich eine halbe Stunde für Sie.«
Den Rest des Vormittags beschäftigte er sich mit der Tagespost und dem Protokoll der Presbyteriumssitzung, machte sich auch
Notizen für den nächsten Gemeindebrief. Frau Meschnik ging wie üblich, wenn sie vormittags Bürodienst gehabt hatte, um 13
Uhr nach Hause. Er selbst wollte gerade nach oben gehen, um sich zwei Spiegeleier mit Schinken zu braten und einen Joghurt
zu essen, als Rainer anrief, um ihn zum Abendessen einzuladen. Er zögerte einen Augenblick in dem Gefühl, sich neu einstellen
zu müssen, nach allem, was er gerade erfahren hatte. Aber Rainer hatte schon hinzugefügt: »Angelika will etwas Gutes für uns
kochen.«
Beschämt über seine erste Reaktion, diese blöde |157| moralische Einflüsterung, die er nicht mochte, aber typisch für sich fand, antwortete er: »Danke. Das rührt mich ja geradezu.
Das ist endlich mal ein Lichtblick.«
»Ich hab mir gedacht, dass du ein wenig Abwechslung brauchst. Der Stress der letzten Tage hat ja heute noch deutlich zugenommen.«
»Ja, ganz absurd. Ich versteh es auch nicht. Heute Nachmittag kommt das Fernsehen, um mich auszufragen.«
»Vorsicht!«, sagte Rainer. »Die wollen natürlich polarisieren. Lass dich nicht in etwas reinziehen, was du nicht überschauen
kannst.«
»Niemand überschaut was. Das ist es ja.«
»Dann sag doch das.«
»Das tue ich schon die ganze Zeit. Aber wenn die Bestie Blut leckt, ist sie nicht zu bremsen.«
»Du meinst die Medien?«
»Ich meine auch die Menschen. Alle scheinen sich einig zu sein.«
»Das sag aber bitte nicht.«
»Vorher habe ich noch Konfirmandenunterricht. Da werde ich ausprobieren, was ich im Fernsehen sagen kann.«
»Gute Idee. Dann hast du ja heute Abend was zu erzählen.«
»Ich freu mich auf euch«, sagte er. »Und sag bitte Angelika, sie kann kochen, was sie will, mir wird alles wunderbar schmecken.«
»Das glaube ich dir sogar. Kannst du ab 19 Uhr?«
»Ja, dann bin ich frei.«
|158| Das war eine befreiende Aussicht auf einen schönen freundschaftlichen Abend. Eine Möglichkeit aufzutanken.
Was Frau Meschnik über Rainer und seine sexuellen Eskapaden erzählt hatte – über seinen Anteil an der gescheiterten Ehe von
Karbe und seiner unglückseligen Frau –, hatte denunziatorisch und missgünstig geklungen. Stimmen konnte es natürlich trotzdem.
Theoretisch konnte man es nicht ausschließen. Aber gab es denn Wahrheit aus trüben oder vergifteten Quellen? Das war wieder
eine dieser Fragen, die sich unbeantwortet bei ihm anhäuften, ein wachsender Haufen von seelischem Müll, den andere Leute
bei ihm abluden, in der selbstverständlichen Unterstellung, dass er dafür zuständig sei. Diese Erwartung hatte er selber geweckt,
als er sein Amt übernommen hatte. Er hatte sich durch verständnisvolles Zuhören von der
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