Der Himmel ist kein Ort
besuchen. Das werde ich in den nächsten
Tagen nachholen.«
»Wenn er Sie empfangen wird.«
»Warum sollte er nicht?«
»Weil sich das Klima verschlechtert hat, vor allem in den letzten Tagen. Lesen Sie mal, was heute in der Zeitung steht. Ich
hab sie Ihnen auf den Tisch gelegt.«
»Danke«, sagte er und ging ohne ein weiteres Wort in sein Zimmer. Manchmal nervte ihn der auftrumpfende, belehrende Ton, den
sie immer wieder anschlug. Aber das war ihr wohl nicht bewusst. Vielleicht hatte sie ihren Umgangston in den langen Jahren
der Zusammenarbeit seinem Vorgänger abgelauscht und danach selbstverständlich, aber in verschärfter Form auf ihn angewandt.
Nun ja. Er wusste es einzuschätzen und konnte damit leben, weil ihre Vorzüge überwogen.
|153| Auf dem aufgeräumten Schreibtisch lag die Zeitung genau in der Mitte, als demonstriere sie ihre Wichtigkeit. Im Lokalteil
entdeckte er sofort den Text. Es war nicht viel mehr als eine ausführliche Meldung, aber brisant aufgemacht: »Mordverdacht
im Baggerseeunfall. Eltern stellen Strafanträge gegen Schwiegersohn.« Es handelte sich um einen Strafantrag wegen vollendeten
Mordes und um einen zweiten wegen Mordversuchs und schwerer Körperverletzung, der sich auf den Jungen bezog, der, wie angemerkt
wurde, »mit irreversiblen Hirnschäden in der Intensivstation« lag. Karbe, der Beklagte, wurde nicht mit Namen genannt, aber
als »ein bekannter Lehrer an der Realschule« bezeichnet. Natürlich wussten in der näheren Umgebung längst alle Leute, von
wem die Rede war.
Seltsam war das Verhalten von Otten gestern Abend in der Presbyteriumssitzung. Offenbar hatte er schon gewusst, was heute
in der Zeitung stehen würde. Aber er hatte sich nicht getraut, von den Strafanträgen zu sprechen. Vielleicht war er auch verpflichtet
worden, bis heute zu schweigen. Aber das war ihm schwergefallen. Er hatte spürbar unter Druck gestanden wie der ganze Gemeindevorstand.
Alle hatten sie das Bedürfnis gehabt, sich Luft zu verschaffen und zu reden. Alle suchten sie einen sicheren Unterschlupf
in einer festen Meinung. Nur Drössel mit seinen Hustenanfällen und seinem Schimpfen hatte einen Soloauftritt gehabt. Er war
durch sein Alter und seine Gebrechlichkeit so weit abgerückt, dass er nicht mehr wahrnahm, was die anderen beschäftigte, und
in seiner ziellosen |154| Wut auf das ganze falsche Leben überall Versager, Verblendete und korrupte Menschen sah.
Hermann Sievert musste man sich wohl ganz anders vorstellen, als einen großen Schweiger. Er besaß die gesellschaftliche Macht,
um seine Sicht der Dinge anderen Menschen aufzunötigen. Aber wie war es zugegangen, dass die Staatsanwaltschaft diese Strafanträge
akzeptiert und übernommen hatte? Es mussten doch wohl neue Erkenntnisse der Kriminalpolizei und der Ärzte vorliegen, um einen
solchen Schritt zu legitimieren. In der Zeitung hatte darüber nichts gestanden. Hatte Eschweiler vielleicht angerufen, weil
er neue Informationen hatte, die über die Zeitungsmeldung hinausgingen? Oder war er genauso irritiert wie er? Mit den beiden
Strafanträgen hatte die Geschichte eine neue Dimension bekommen. Es war wie das grundlose, stumme Verschließen einer Tür.
Wie mochte Karbe die Situation erleben? Wurde er inzwischen wieder verhört? Und konnte er dem Druck verschärfter Verdächtigungen
standhalten? Oder verkroch er sich immer mehr?
Er wählte Karbes Nummer, gespannt, ob er sich melden würde oder wieder die automatische Stimme ihren Spruch wiederholte, dass
die gewählte Nummer vorübergehend nicht erreichbar sei, aber er hörte nur das Rufzeichen und wartete. Vielleicht zögerte Karbe,
zum Telefon zu gehen. Vielleicht war er oben im Haus oder im Keller, und er musste ihm Zeit lassen. Er musste beharrlich sein.
Das regelmäßige Tuten des Rufzeichens zauberte ihm ein Chaosbild von Karbes heruntergekommener Wohnung vor Augen und dunkel |155| eine Gestalt, die sich mühsam erhob und zum Telefon schlurfte. Doch nun hörte er gleichzeitig, dass auch das Telefon im Vorzimmer
klingelte und Frau Meschnik das Gespräch annahm. Noch immer lauschte er auf das Tuten an seinem Ohr, als Frau Meschnik mit
dem Hörer hereinkam und die Sprechmuschel zuhielt. »Das Fernsehen!«, sagte sie leise. »Sie wollen ein Interview.«
»Geben Sie her«, sagte er, während er die Austaste drückte und sein Telefon wieder in die Halterung stellte. Aber sie flüsterte
noch »Seien sie vorsichtig!«,
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