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Der Himmel ist kein Ort

Der Himmel ist kein Ort

Titel: Der Himmel ist kein Ort Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dieter Wellershoff
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robusteren Amtsführung seines Vorgängers
     unterscheiden wollen. Was er zu hören bekam, stieß ihn häufig ab. Er konnte dann nur so tun, als verstünde er alles, kümmere
     sich um alles, sei für alles da. In letzter Zeit hatte er gespürt, dass ihn das erschöpfte.
    In der Brusttasche seiner Jacke steckte noch sein kurzer Antwortbrief an Luiza Suarez. Er hatte ihn frankiert und zu der Gemeindepost
     legen wollen, die Frau Meschnik, wenn sie nach Hause ging, in den Briefkasten warf. Doch als er heute Morgen verspätet und
     innerlich noch etwas unsortiert das Büro betreten hatte und von ihr mit der ganzen Ausstrahlung ihrer sachlichen Kompetenz
     und ihrer immer etwas ironisch verbrämten Lebenserfahrung empfangen |159| worden war, hatte er sich sofort anders entschieden und den Brief zurückgehalten. Schließlich wusste er selbst nicht, weshalb
     er den eigenartigen Brief dieser Frau beantwortet hatte. Es war eine Augenblicksstimmung gewesen, ein plötzlicher Impuls,
     dem er nachgegeben hatte, ohne dass sich damit eine konkrete Vorstellung verband, die noch abrufbar war. Zu viel hatte sich
     darübergelegt in den letzten Stunden. Vielleicht musste er den Brief noch einmal lesen, um sich klarzumachen, was ihn so beeindruckt
     hatte an diesen Phantasien einer fremden älteren Frau, die zu seinem Leben überhaupt nicht passten. Sicher war es das Einfachste,
     die Sache auf sich beruhen zu lassen und nicht auf ihren Brief zu antworten, wie sie es ihm sogar selbst vorgeschlagen hatte
     als eine naheliegende Möglichkeit, die sie verstehen und respektieren würde. Immerhin eine imponierende Geste, die ihm jede
     Freiheit ließ. Sein Antwortbrief musste nicht bis zur Nachmittagsleerung im Kasten sein. Es genügte, ihn in den nächsten Tagen
     abzuschicken. Oder auch erst in einer Woche, wenn sich sein Leben wieder etwas normalisiert hatte.
    Jetzt musste er erst einmal etwas essen und ein halbe Stunde schlafen. Um 15 Uhr kamen die Konfirmanden, danach das Fernsehteam.
     Anschließend hatte er Sprechstunde mit drei Anmeldungen älterer Gemeindemitglieder, die regelmäßig ehrenamtliche Betreuungsbesuche
     im Krankenhaus und im Altersheim machten und selbst dringend Betreuung brauchten, um weitermachen zu können. Abends war er
     dann bei Rainer und Angelika. Dazu musste er wieder mit |160| dem Auto in die Stadt fahren. Die Strecke – vorbei am Baggersee – war eine Kleinigkeit. Er fuhr sie nicht ungern. Nur durfte
     er nicht mehr als zwei Gläser Wein trinken, anders als in seiner Wohnung, wo er in letzter Zeit oft mehr als eine halbe Flasche
     Rotwein trank, um schlafen zu können. Ja, schlafen, das brauchte er auch jetzt. Während er die steile Treppe in seine Wohnung
     hochstieg, spürte er, wie erschöpft er war. Vielleicht musste er erst noch etwas essen. Er hatte noch eine Büchse Linsensuppe,
     die er sich warm machen konnte. Nahrungsaufnahme mit geringstem Aufwand nannte er das. Mit den richtigen Worten konnte man
     vieles beherrschen.
     
    Anschließend legte er sich angezogen aufs Bett und schloss die Augen. Er war dabei wegzusacken, als ihm einfiel, dass er den
     Wecker stellen musste, um rechtzeitig wach zu werden, bevor die Konfirmanden kamen. Die Vorhänge hatte er nicht zugezogen,
     aber auf dem Stuhl neben seinem Bett lag ein Handtuch, das er sich über die Augen legte. Schlief er nun eigentlich? Es kam
     ihm nicht so vor. Doch er fühlte die bleierne Schwere seiner symmetrisch angeordneten Glieder und seinen auf einer festen
     Unterlage ruhenden Hinterkopf. In seinen Ohren war ein gleichmäßiges Rauschen und Stampfen wie in einer großen Maschinenhalle,
     die er undeutlich vor Augen sah, in ihrer ganzen Länge. Eine gewölbte, glasgedeckte Halle ohne Menschen, in der eine unsichtbare
     Maschine arbeitete, die ein Echo in seinem Kopf hatte. Ich hab hohen Blutdruck, dachte er. Aber der Puls ging langsam |161| . Langsam und leise. Ein leises Blasen wie bei dem Jungen an der Beatmungsmaschine mit dem sich blähenden und schrumpfenden
     schwarzen Sack. Die Halle, in der er lag, war dämmrig. Das schmutzige Glasdach ließ nur ein graues, staubiges Licht durch.
     Es war lange nicht gereinigt worden. Die Maschine arbeitete und stampfte wohl immer noch, was irgendwie falsch war, ohne dass
     er es ändern konnte. Plötzlich schrillte neben ihm der Wecker und ließ ihn hochfahren und auf die Uhr starren. Der Konfirmandenunterricht
     begann in zehn Minuten. Er taumelte ins Badezimmer, schöpfte mit beiden

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