Der Himmel ist kein Ort
Friedhofsgärtnerei.«
»Echt christliche Floristik«, sagte Rainer.
Es war eine ziemlich dümmliche Bemerkung, die ihm wohl nur so rausgerutscht war.
Sie hielten immer noch ihre Gläser, ohne getrunken zu haben, bis Angelika sagte: »Falls nicht einer von euch noch einen Toast
aussprechen möchte, gehe ich jetzt in die Küche und kümmere mich um das Essen.«
»Ich trinke auf euer Wohl«, sagte er und hob sein Glas. »Auf viele weitere gute und glückliche Jahre!«
Beinahe hätte er sich verschluckt, weil er noch mehr |165| sagen wollte. Aber mehr war ihm nicht eingefallen. Nun hatten sie alle schon ihre Gläser abgestellt, und Angelika war in die
Küche gegangen.
Plötzlich gab es zwischen Rainer und ihm nichts mehr zu sagen. Beide warteten sie darauf, dass der andere etwas sagen würde.
Frau Meschniks Äußerungen über Rainers Ehebruch mit Kerstin Karbe waren ihm wieder eingefallen und hatten das unbehagliche
Gefühl erzeugt, nicht zu wissen, in welcher Situation er sich befand und welche Rolle ihm zugedacht war. War er Gast bei einer
Versöhnungsfeier? Oder schwelte der Konflikt weiter? Oder war alles nur ein widerliches Gerücht? Was bedeutete die freundschaftliche
Kollegialität, die ihn mit Rainer verband? Alles kam ihm so abgehoben vor, so bodenlos. Und hinter dieser Szene erschien wieder
der brennende Blick von Luiza Suarez, die ihn über den Tisch hinweg angeschaut hatte mit einer alles andere ausblendenden
Ausschließlichkeit, der er nicht gewachsen war.
Inzwischen hatte Rainer, anscheinend gedankenlos, die Flasche ergriffen und sich selbst nachgeschenkt, ehe er ihn fragte,
ob er auch noch etwas wolle. »Nein danke«, hatte er geantwortet. Gleich danach hatte er es sich anders überlegt und Rainer
sein Glas hingehalten: »Doch, gib mir noch was.« Wie zwei Automaten hatten sie sich gegenseitig zugetrunken.
Wenig später rief Angelika sie zum Essen. Auf keinen Fall wollte er die beiden irritieren.
Angelika und Rainer stellten gemeinsam das Menü und die Getränke vor. Zum Beginn gab es eine Kerbelsuppe |166| , dann Wildschweingulasch mit Klößen und Rotkohl. »Mit reichlich Preiselbeeren«, wie Rainer ergänzte. Zum Abschluss ein Apfeltörtchen
mit Rosinen und klein gehackten Nüssen. Dazu Rotwein: »Einen guten Ahrburgunder oder einen Bordeaux. Nach Belieben auch einen
badischen Weißwein.«
»Das ist ja das donnernde Leben«, sagte er.
»Wir trinken auf das Dasein und das Hiersein«, sagte Rainer.
»Großartig. Geradezu heidnisch«, antwortete er.
»Das siehst du richtig. Ohne ein starkes heidnisches Fundament leidet das Christentum an Materialermüdung.«
»Jetzt hört auf mit eurer Kulturgeschichte«, sagte Angelika.
Beim Essen nahm die Unterhaltung eine andere Richtung. Rainer fragte ihn nach dem Fernsehinterview, und er erzählte, dass
es genau so abgelaufen sei, wie Rainer es vorausgesagt hatte. Der Interviewer hatte versucht, ihn mit seinen Fragen in eine
eindeutige Gegenposition zu den Strafanzeigen der Familie Sievert zu drängen. Er war nicht ungeschickt vorgegangen und hatte
mit der rhetorischen Frage, ob er die Strafanträge nicht überzogen fände, ein persönliches Einverständnis mit einer grundsätzlichen
Distanzierung angedeutet. Denn dort lag für ihn natürlich das Spannungspotenzial, das die Medien brauchten. Vielleicht war
es sogar ein wirkliches Einverständnis gewesen. Jedenfalls während des Gespräches. Im Grunde waren das ja alles nur Gesprächssituationen.
Man redete |167| hinter den Worten und Argumenten her, die einem unwillkürlich einfielen, manchmal mit bösen Folgen, wenn sie später zu Zitaten
wurden. Er habe allerdings in diesem Fall sein endgültiges Urteil vom Ergebnis der polizeilichen Ermittlungen abhängig gemacht
und an der Unschuldsvermutung festgehalten. Übrigens habe er sich beim vorausgegangenen Konfirmandenunterricht noch einmal
darauf vorbereitet, denn da habe er über Matthäus, Kapitel 7, Abschnitt 1 gesprochen: »Richtet nicht, auf dass ihr nicht gerichtet
werdet.«
»Und wie bist du damit angekommen?«
»Nicht so besonders gut. Ich hatte vorausgesetzt, es sei ein klarer, einleuchtender Satz. Wegen der einfachen Rückbezüglichkeit
von Aktion und Reaktion. Aber einer der Schüler, einer, der sich immer zu Wort meldet – ich glaube, du kennst ihn, er heißt
Lutz Seiler –, hielt mir entgegen: ›Man muss doch richten, wenn es ein Mörder ist.‹«
»Da spricht schon die Presse«,
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