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Der Himmel ist kein Ort

Der Himmel ist kein Ort

Titel: Der Himmel ist kein Ort Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dieter Wellershoff
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wieder die fremde samtige Stimme:
    »… dieser Brief ist ein einziges Fragezeichen. Ich habe mich gefragt, ob ich überhaupt berechtigt bin, Ihnen zu schreiben,
     und diese Frage nicht beantworten können. So habe ich sie einfach beiseitegeschoben, weil mein Wunsch, Ihnen zu schreiben,
     stärker war als meine Bedenken …«
    Ja, sie hatte kühn und sacht zugleich eine Tür geöffnet. Und anders wäre es auch nicht möglich gewesen. Aber er fühlte sich
     dem nicht gewachsen. Nicht im Augenblick. Antworten musste er wohl. Eigentlich war er schon entschieden, auf diese merkwürdige
     Einladung einzugehen. Aber er wusste nicht, ob das morgen noch Bestand haben würde, denn er übersah |146| nicht die Konsequenzen. Sorgfältig faltete er die Blätter und schob sie in den Umschlag zurück. Weiterlesen wollte er jetzt
     nicht, um nichts infrage zu stellen.
    Er war todmüde. Dennoch konnte er nicht einschlafen. Er hatte das Gefühl, dass der Tag ihn völlig zerrieben hatte, und morgen
     ging alles weiter. Lauter Anfänge und Endpunkte, ohne klare Perspektive. Immer wieder fielen ihm Einzelheiten der Abendsitzung
     ein, abgehakte Dinge, die sich ihm wieder aufdrängten. Schließlich stand er auf und ging ins Wohnzimmer, um den Rest Rotwein
     zu trinken. Die Flasche war gerade halb voll. Das war es, was er brauchte. Er wollte hier eine Stunde sitzen bleiben und die
     Gedanken schweifen lassen, um sich zu beruhigen. Wieder dachte er an den Brief, ohne dass ihm die Briefschreiberin dabei deutlich
     vor Augen trat. Dennoch gingen Wirkungen von ihr aus. Es war eine unerklärliche, unabweisbare Erwartung, die auf ihn überging,
     obwohl sie mit nichts Wirklichem in Verbindung zu bringen war – eine abgehobene, absolute Phantasie, in die er sich eingesponnen
     fühlte. Und auf die er antworten musste, damit sie sich nicht wieder auflöste. Warum nicht gleich? Da er ja doch nicht schlafen
     konnte. Und sonst auch nicht schlafen würde, weil er immer daran denken musste. Nur ein paar Sätze wollte er schreiben, nur
     ein erstes Zeichen setzen. Wie einem inneren Befehl gehorchte er diesem Gedanken, setzte sich an seinen Schreibtisch und begann
     zu schreiben: »Erinnern Sie sich noch an den Schmetterling in der Kirche? So unverhofft hat sich Ihr Brief bei mir niedergelassen.
     Ich hoffe nur, er fliegt nicht wieder |147| fort. Ich staune über Ihre Sicherheit. Sie müssen viel Selbstgewissheit und Kraft haben. Ich dagegen habe Schwierigkeiten:
     mit den Menschen, mit der Welt, mit meinem Glauben und mit mir selbst. Ich wage das nur zu schreiben, weil ich glaube, dass
     Sie das alles schon wissen. Darauf verlasse ich mich, indem ich Ihnen jetzt antworte, dass ich sie gerne wiedersehen möchte,
     für einen weiteren, aber längeren Augenblick.«
    Er hatte den Brief in einem Zug geschrieben, und als er ihn noch einmal las, wunderte er sich, dass er ihn geschrieben hatte.
     Es war so, als hätte sie ihm die Hand geführt. Morgen wollte er ihn abschicken.

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|148| V
    ALS ER AM NÄCHSTEN MORGEN etwas später als gewöhnlich ins Büro kam, war Frau Meschnik schon da und sagte, Eschweiler habe
     gerade angerufen und rufe in einer Stunde wieder an.
    »Hat er gesagt, worum es ging?«
    »Er wollte Sie auf die Meldung aufmerksam machen, die heute in der Zeitung steht. Ich hab Sie Ihnen auf den Tisch gelegt.«
    Sie hatte das sachlich gesagt. Aber da er sie kannte, hatte er einen warnenden Unterton herausgehört.
    »Zum Baggerseeunfall?«
    »Ja«, sagte sie. Was sich in seinen Ohren so anhörte, als hätte sie gesagt: Sie werden schon sehen!
    Um ihre strenge Zurückhaltung etwas aufzulockern, sagte er: »Davon war auch gestern im Presbyterium viel die Rede.«
    »Das kann ich mir vorstellen.«
    Vielleicht, weil er nur genickt hatte, fügte sie hinzu: »Ich fürchte, das spitzt sich noch zu.«
    »Das glaube ich inzwischen auch. Hoffentlich wird der Fall bald abgeschlossen.«
    Sie sagte nichts dazu.
    In seinem Bedürfnis, sie mehr ins Gespräch zu |149| ziehen, begann er trotz eines warnenden Unbehagens zu erzählen, was Rainer Wittek ihm anvertraut hatte: dass Karbe seine Frau
     mit chronischer Eifersucht kontrolliert und eingesperrt habe.
    »Hat er Ihnen denn auch gesagt, dass sie ein sexsüchtiges Flittchen war?«
    »Nein. Wie kommen Sie darauf?«
    »Das war jahrelang Gesprächsstoff im Ort. Sie ist schon mit 15 Jahren aus ihrem Elternhaus weggelaufen. Natürlich zusammen
     mit einem Jungen. Die Eltern haben versucht, es geheim zu halten.

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