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Der Himmel ist kein Ort

Der Himmel ist kein Ort

Titel: Der Himmel ist kein Ort Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dieter Wellershoff
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Sie erzählten irgendetwas von einer Reise. Aber es kam natürlich
     trotzdem heraus. Mit 17 Jahren hat sie dann ihren Lehrer verführt und sich von ihm schwängern lassen. Er hat sie pflichtschuldig
     geheiratet, und ihre Eltern, sehr konservative Leute, haben zugestimmt. Aber für sie selbst war die Ehe wohl nicht das Richtige.
     Denn nach den ersten drei oder vier Jahren, vielleicht auch schon früher, hat sie angefangen, ihren Mann zu betrügen. Rainer
     Wittek weiß das. Er war einer ihrer vielen gelegentlichen Bettgenossen.«
    »Was? Rainer Wittek?«
    »Er und andere.«
    »Das ist ja eine Schauergeschichte«, sagte er.
    »So können Sie es nennen«, sagte Frau Meschnik kalt. »Aber es ist eine wahre Schauergeschichte.«
    »Ich glaube Ihnen ja«, sagte er beschwichtigend.
    Er machte eine längere Pause. Dann fuhr er fort: »Real werden die Geschichten allerdings erst, wenn man sie genau erzählt,
     mit allen Nebenumständen, allen Zwängen und Zufällen, allen Phantasien, einfach |150| allem, was dazugehört, um Menschen zu irgendetwas zu bringen, was sie vielleicht hinterher selber nicht mehr verstehen.«
    Er brach ab, weil er ungewollt in eine Argumentation hineingeraten war, die er nicht beabsichtigt hatte. »Die Vergangenheit
     lässt sich meistens nicht mehr rekonstruieren«, fügte er noch hinzu. »Wir sehen nur das fatale Resultat.«
    »Den sogenannten tödlichen Unfall«, sagte Frau Meschnik.
    »Ja«, sagte er. Aber ihre Antwort hatte ihn schockiert.
    Er sah die zwanghafte Logik, die in ihrem raschen Resümee steckte. Alles, was ihm in den letzten Tagen erzählt und was in
     seiner Umgebung geredet worden war, lief darauf hinaus, dass der sogenannte Unfall ein Verbrechen war. Anscheinend wirkte
     das auf viele befreiend, als habe jemand mit einem Ruck einen Vorhang beiseitegeschoben und eine verborgene, bisher verleugnete
     Wahrheit für alle sichtbar gemacht. Es war befriedigend wie ein gelungener Trick und eine plötzliche Vereinfachung. Vermutlich
     spielte sich so etwas auch in den Köpfen von Kriminalisten ab, wenn sich die Details, die sie gesammelt hatten, zu einem logisch
     wirkenden Bild zusammenfügten. Auch wenn es nur eine Hypothese war – man brauchte eine einleuchtende Geschichte, um einen
     Fall abzuschließen. Ihm selbst erging es auch so. Alles, was er in den letzten Tagen gehört hatte, drängte ihn, einzustimmen
     in den Schuldspruch, weil die Vorgeschichte und ihre Zuspitzung die vermutliche Tat verständlich und einfühlbar |151| machten. Hätte man am Ende vielleicht das Gleiche empfunden wie der vermutliche Täter?
    Nein, das wohl doch nicht, dachte er. Das ist zu einfach. Bestimmt wäre etwas anderes dazwischengetreten: ein warnendes Gefühl,
     ein Gedanke wie ein inneres Stoppzeichen. Aber in diesem Falle war alles zu spät gewesen. Nachdem Karbe das Lenkrad herumgerissen
     hatte, war alles unwiderruflich abgelaufen, auch wenn sie alle »Nein« geschrien hatten, als ob sie sich plötzlich einig gewesen
     wären. Er konnte sich Karbe allerdings nur stumm vorstellen.
    »Ich muss darüber nachdenken«, sagte er. »Was Sie erzählt haben, ist völlig neu für mich. Danke jedenfalls, dass Sie mich
     eingeweiht haben.«
    »O bitte«, sagte sie. »Ich könnte auch noch mit mehr dienen.«
    »Erst mal reicht’s«, antwortete er. »Aber Sie könnten mir noch etwas über Kerstin Karbes Eltern erzählen. Ihr Vater ist offenbar
     der Gründer und der Inhaber der Maschinenfabrik Sievert & Hecker.«
    »Nicht der Gründer. Das war sein Vater. Aber er hat die Firma groß gemacht.«
    »Und wer ist der andere, der Teilhaber?«
    »Ulrich Hecker? Der war leitender Ingenieur und wurde später Kompagnon von Hermann Sievert. Nach allem, was darüber geredet
     wurde, war er ursprünglich als Schwiegersohn und Nachfolger vorgesehen. Ulrich Hecker kam vor drei Jahren bei einem Unfall
     um. Mit einem Sportflugzeug. Ja, das ist eine extreme Familie. Hermann Sievert gilt aber als ein konservativer und kultivierter
     Mensch. Er hat viel |152| für die Kirche gestiftet. Ich habe ihn bei einer dieser Gelegenheiten erlebt: ein schweigsamer, imponierender Mann.«
    »Das schwierige Verhältnis zu seiner Tochter war wohl sein Lebensproblem?«
    »Kann man so sagen. Vielleicht war er für die Tochter zu bestimmend. Er hat nie etwas aus der Hand gelassen.«
    »Wahrscheinlich. Jetzt ja auch nicht. Das ist schon wirklich extrem.«
    Er machte eine Pause, bevor er sagte: »Ich habe schon lange vorgehabt, Sievert zu

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