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Der Himmel ist kein Ort

Der Himmel ist kein Ort

Titel: Der Himmel ist kein Ort Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dieter Wellershoff
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Montagmorgen ins Büro kam. Aber sie sprach nicht darüber. Er merkte es nur an ihrer Nervosität und an ihrer ungewohnten
     Schweigsamkeit, vor der er sich nach ein paar Worten in sein Zimmer zurückgezogen hatte. Dort saß er gedanken und tatenlos
     an seinem Tisch, darauf wartend, dass sich etwas in ihm regte, eine Einflüsterung, die ihm sagte, was er tun solle. Frau Meschnik
     brachte ihm die Zeitung, die er im Vorzimmer liegen gelassen hatte. |192| Er wagte nicht, sie aufzuschlagen, weil sie nichts dazu gesagt hatte. Die schroff wirkende Stummheit, mit der sie die Zeitung
     vor ihm auf seinen leeren Schreibtisch gelegt hatte, war aber anscheinend ein Ausdruck ihrer eigenen Verlegenheit gewesen,
     denn als er etwas später das Blatt durchblätterte, fand er keinen Hinweis auf sich selbst. Es hing aber sicher mit seinem
     auffälligen Versagen zusammen, dass am nächsten Tag Dr. Pauly, der Superintendent im Landeskirchenamt und Referent für pastorale
     Theologie, für einen der folgenden Tage seinen Besuch ankündigte. Gut, dachte er, dann weiß ich jedenfalls Bescheid.
     
    Doch vorher geschah etwas, womit er nicht mehr gerechnet hatte. Er bekam einen Brief von Luiza Suarez. Sie war verreist gewesen
     und hatte erst bei ihrer Rückkehr nach Hamburg seinen kurzen Brief vorgefunden, in dem er ihr geschrieben hatte, dass er sie
     bei Gelegenheit besuchen wolle. Er hatte das zwar nicht vergessen, aber es war unwirklich geworden, wie eine Einzelheit aus
     einem anderen, erfundenen Leben, an die er sich nur beiläufig erinnerte. Auch der Brief, den er aufschlug, sprach von der
     Distanz, aber in einer völlig anderen Sprache.
    »Es ist gleich Mitternacht. Vor einer halben Stunde bin ich nach Hause gekommen und fand Ihren Brief vor. Ich war in Süddeutschland
     bei meiner Schwester. Während der langen Heimfahrt bin ich zwischendurch in Ihrer Nähe gewesen und fand es plötzlich sinnlos
     weiterzufahren. Alles drängte mich auszusteigen.
    Ich denke unentwegt an Sie. Ich muss wie ein |193| Diktator mit mir umgehen, sonst tue ich nichts außer träumen. Ich war krank am Freitag. Ich wusste mir nicht mehr zu helfen.
     Meine besorgte Schwester schickte mich ins Bett. Nachts wachte ich auf, weil ich an meiner Seelenquelle berührt worden war.
     Ganz unerwartet kamen die erlösenden Tränen und ich war gesund. Ich wollte Ihnen das gleich schreiben, tat es aber nicht,
     weil das Gefühl der Erlösung so leicht war. Ich bestand nur noch aus Gedanken. Das wollte ich nicht unterbrechen. Dann bin
     ich wieder eingeschlafen, weil ich wusste: Jetzt kannst du ihn treffen, jetzt bist du bereit! Alle Angst war auf einmal verschwunden.
    Ich warte so sehr, dass Sie mir schreiben, wann ich Sie sehen kann. Ihr Brief, danke! Ich lese ihn immer wieder. Ja, ich kann
     Ihre Schrift lesen. Jedes Wort ist eine Botschaft für mich. Immer möchte ich meine Briefe an Sie beginnen mit ›mi querido‹,
     das heißt ›mein Begehrter‹. Ich habe meine Wange auf Ihren Brief gelegt, auf dem Ihre Hand gelegen hat. Ich dachte noch: Man
     lebt so, dass man durch viele Menschen hindurchgeht, bis man plötzlich in einen Menschen hineingeht, weil man da zu Hause
     ist. Gute Nacht! Ich dränge Sie nicht. Ich warte. Darf ich so viel schreiben?«
    Einen Tag später kam eine Briefkarte mit den Worten: »Das Leben hat nur Sinn, wenn das, was wir wirklich sind, berührt wird.
     Kommen Sie erst, wenn Sie es wirklich wollen. Ich warte. Ich kann warten. Viele Wochen kann ich warten, um Sie zu sehen. Ich
     hoffe jedoch, Sie kommen bald.«
    |194| Auf der anderen Seite der Karte stand in großen beschwörenden Buchstaben »Sie sind in meinen Gedanken verankert wie ein Schiff
     in seinem Hafen!«
     
    War es vor allem dieser letzte, besitzergreifende Satz oder die ganze Karte oder vielleicht sogar der Brief, der in ihm ein
     eigentümliches Gefühl von Befremden hinterlassen hatte, das er erst allmählich begriff? Er war sich so vorgekommen, als starre
     er in ein leuchtendes Feuer, das sich fortwährend an sich selbst entzündete und immer neue farbige Flammenwunder hervorbrachte.
     Er selbst stand abseits, wie überflüssig geworden, und betrachtete die tanzenden Flammenzungen dieser an sich selbst entzückten
     Leidenschaft. Es war eine plötzliche, unvorhersehbare Entfaltung ruhender, verborgener Kräfte, die vielleicht schon Jahre
     lang darauf gewartet hatten, einen Anlass zu finden. Und zufällig waren in dem Moment, da sie sich gegenübersaßen, die

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