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Der Himmel ist kein Ort

Der Himmel ist kein Ort

Titel: Der Himmel ist kein Ort Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dieter Wellershoff
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bemühte sich, den
     Eindruck von Polizeigewalt zu vermeiden, indem er sich durch ein verabredetes Klingelzeichen meldete und nicht den ausgelieferten
     Zweitschlüssel benutzte. Bisher hatte das ohne Schwierigkeiten funktioniert. Doch dieser freundlich gemeinte, aber unerwartete
     Besuch zu zweit wurde ein kompletter Fehlschlag. Karbe, inzwischen vollbärtig, mit strähnigen Haaren und verquollenen Augen
     in seinem bleichen, abgezehrten Gesicht, erstarrte, als er ihn neben Pfeiffer in der Tür stehen sah. Offenbar war sein unerwartetes |186| Erscheinen zusammen mit der Polizei für Karbe ein bedrohlicher Besuch, vielleicht nur, weil es etwas Neues war. Er verstummte
     fast völlig. Eine Unterhaltung kam nicht in Gang. Pfeiffer, der sich im Eingang und im Wohnzimmer umgeschaut und auch einen
     Blick in die Küche und den Kühlschrank geworfen hatte, machte einige freundlich ermahnende Bemerkungen über die wachsende
     Unordnung und Verschmutzung der Wohnung und öffnete nebenbei ein Fenster, um, wie er sagte, »atembare Luft« hereinzulassen.
     Er fragte auch, ob Karbe genug trinke und ob jemand ihm die Tiefkühlkost mitgebracht habe, die er im Kühlschrank gesehen hatte.
     Es hörte sich an, als hake Pfeiffer die Punkte einer Strichliste ab, während er hin und her ging und seine Fragen an Karbe
     stellte, der manchmal nur nickte oder den Kopf schüttelte und einen Laut von sich gab. Zum Schluss fragte Pfeiffer, ob er
     einen Arzt brauche. »Nein«, hatte Karbe geantwortet. »Ich hab noch alle meine Tabletten.« Dabei hatte er auf die Fensterbank
     gewiesen, wo wie beim ersten Besuch mehrere Tablettenschachteln lagen.
    »Setzen wir uns doch«, sagte Pfeiffer. »Pfarrer Henrichsen hat etwas Wichtiges mit Ihnen zu besprechen.«
    Anscheinend hatte Karbe nur seinen Namen verstanden. Denn er machte keine Anstalten, Platz zu nehmen und ihnen einen Platz
     anzubieten, sondern drehte sich ihm mühsam zu wie eine schon halbwegs festgezogene Schraube in ihrem Gewinde. Die Langsamkeit
     dieser Bewegung hatte in seinen Augen etwas |187| Unverschämtes. Sie schien zu sagen: »Ach, du bist ja auch noch da.«
    Später war ihm klar geworden, dass diese Trägheit nichts bedeutet hatte, sondern nur ein Ausdruck von Karbes seelischer Erschöpfung
     war. Doch in diesem Augenblick hatte er sich durch Karbes seltsames Verhalten vor Pfeiffer gedemütigt gefühlt und schroff
     gesagt: »Gut, machen wir es kurz.« Er hatte Luft geholt und in schneidender Kürze gesagt: »Herr Karbe, Dr. Kühne, den Sie
     ja gut kennen, hat mich gebeten, Ihnen zu sagen, dass er dringend Ihre Genehmigung brauche, um die aussichtslose Beatmung
     Ihres bewusstlosen Kindes zu beenden.«
    Karbe hatte mit unheimlicher Langsamkeit darauf reagiert. Er hatte den Kopf gesenkt und zu zittern begonnen und dann mit erstickter
     Stimme geschrien: »Nein! Nicht mit mir! Nein, nein!«
    Welches Trostwort hätte er dagegen anführen können? Die unsterbliche Seele? Oder gar die Auferstehung des Leibes in voller
     Herrlichkeit und Ewigkeit? Nichts hätte dagegen verfangen. Noch um den erbärmlichsten Lebensrest und selbst noch um die Verfügung
     über die toten Leiber wurde erbittert gekämpft. Als wäre tot zu sein immer noch mehr als nichts.
    Als er kurz danach, zusammen mit dem betroffen dreinschauenden Pfeiffer die Wohnung verließ, war ihm klar gewesen, dass er
     den letzten Rest von Karbes Vertrauen zerstört hatte. Schweigend waren sie zu Pfeiffers Dienstauto gegangen, schweigend waren
     sie losgefahren. Als sie aus der menschenleeren Vorgartenidylle |188| des Buchenwegs hinausfuhren, sagte Pfeiffer: »Das Nächste wird sein, dass man ihn für unzurechnungsfähig erklärt.«
    Er war so versunken gewesen, dass er erst mit Verzögerung begriff, dass sich die Bemerkung auf Karbe bezog.
    »Wer wird das in die Wege leiten?«, fragte er.
    »Sievert. Zusammen mit vertrauten Ärzten. Entweder macht er das im Zusammenhang mit seinen Strafanträgen, die meiner Meinung
     nach sehr hoch gegriffen und etwas wackelig sind. Oder er macht es alternativ und umgeht die Anklage wegen Mordes. Es wäre
     natürlich die elegantere Lösung. Das Gericht würde sie vermutlich vorziehen. Aber ich kenne die Beweislage nicht. Sieverts
     Rechtsanwälte werden ihn ja beraten.«
    »Es ist der Kampf um die Bestattung der Toten.«
    »Genau«, sagte Pfeiffer. »Ich kann es sogar verstehen.«
    »Ich auch. Wer die Toten beerdigt, hat die letzte Möglichkeit, sich mit der Vergangenheit zu versöhnen. Das

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