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Der Himmel ist kein Ort

Der Himmel ist kein Ort

Titel: Der Himmel ist kein Ort Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dieter Wellershoff
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beim Jüngsten Gericht. Nichts
     war mehr da. Ich bin ins Bodenlose abgestürzt.«
    »Und dann konnten Sie nicht mehr sprechen.«
    »Meine Stimme war weg, und ich hörte mich keuchen vor Angst.«
    Pauly nickte.
    »Das ist ein bekanntes Phänomen«, sagte er. »Sie stehen damit nicht allein.«
    |201| »Ich habe mich in meinem ganzen Leben noch nie so allein gefühlt.«
    »Das glaube ich Ihnen gerne. Wie gesagt: Das kennen wir.«
    Pauly machte eine Pause, während sie bedächtig, beide mit gesenktem Blick, nebeneinanderher schritten, sodass er sich mit
     wachsender Beklommenheit fragte, ob das alles sei, was Pauly zu seinem Geständnis zu sagen hatte. Vielleicht war er total
     konsterniert von ihm abgerückt und überlegte die fälligen Konsequenzen. Ja, dieser Mann, der neben ihm herging, war die Instanz,
     die über ihn zu entscheiden hatte. Er selbst hatte sich ja entschieden, allerdings ohne langes Nachdenken, indem er plötzlich
     zu seinem eigenen Erstaunen alles gestanden hatte, was in ihm vorgegangen war. Das hätte er eigentlich nicht tun müssen. Doch
     es war in diesem Augenblick der einzige Weg gewesen, auf dem er sich befreien konnte.
    Aber nun begann Pauly wieder zu sprechen, in einem ganz anderen, erzählerischen Ton: »Waren Sie als Kind oder auch später
     als Erwachsener einmal in einem Zirkus und haben die Trapezkünstler gesehen, wie sie mit doppeltem oder dreifachem Salto durch
     die Zirkuskuppel fliegen und im Bruchteil einer Sekunde die Hände des Fängers ergreifen, der ihnen entgegenschwingt? Das ist
     atemberaubend, nicht wahr? Obwohl unter ihnen ein Netz ausgespannt ist, das den Springer auffängt, wenn er die Hände des
     Fängers verpasst. Es gehört zum Höhepunkt der Vorstellung, dass der Springer bei seinem kühnsten Sprung die greifenden Hände
     des Fängers erst einmal verfehlt |202| und in das Netz stürzt. Aber gleich danach klettert er auf einer Strickleiter wieder hoch zum Absprungplatz, um den tollkühnen
     Sprung noch einmal zu wagen. Und diesmal gelingt der Sprung, und alle sind erleichtert und begeistert von dem Mut des Artisten
     und seiner unwahrscheinlichen Präzision. Man hat etwas kaum Glaubhaftes gesehen. Aber das Kunststück konnte nur gelingen in
     der Gewissheit, dass da dieses Netz ist. Sie verstehen sicher, was ich Ihnen damit sagen will. Sie haben mitten im Sprung
     gedacht: Da ist überhaupt kein Netz!«
    »Ja, so war es. Ein Sturz ins Leere. Aber es war noch bestimmter als dieses Bild. Ich habe mich gefragt: ›Was erzählst du
     den Menschen eigentlich? Das sind doch alles nur Fiktionen!‹«
    »Sehen Sie«, sagte Pauly, »da sind wir gleich einen Schritt weiter. Ja, es sind Fiktionen, alte Geschichten, neue Gedanken
     und Bilder, Kunstwerke und ehrwürdige Rituale, Gewohnheiten und Gefühle. Und das alles zusammen bildet das Netz, das uns auffangen
     soll und das wir Religion nennen. Es besteht aus Altem und Neuem, es hat Lücken, ist stellenweise morsch. Und es wird ständig
     repariert und erneuert und immer wieder erprobt. Es ist ein work in progress. Und das ist auch die Lebendigkeit der Religion.«
    Er hatte erstaunt zugehört und gedacht: ›Das Netz ist sein Standardbeispiel. Das hat er bestimmt schon oft gesagt.‹ Aber Pauly
     war mit seinem Vortrag noch nicht am Ende.
    »Das Problem«, begann er wieder, »das Sie und manche Ihrer Altersgenossen haben – und ich zögere |203| nicht zu sagen, es sind die Gewissenhaftesten unter unserem Pfarrernachwuchs –, das ist die geradezu dokumentarische Treue
     zum Ursprung. Ich bin darin übrigens ganz auf ihrer Seite. Wir müssen zu unserem Erbe stehen. Unser Glaube bezieht daraus,
     vor allem auch gottesdienstlich, seine ganze Kraft. Aber ich habe immer wieder beobachten müssen, dass viele ihrer Generationsgenossen
     in die Wörtlichkeitsfalle tappen. Gott wird zunächst einmal aufgefasst, wie er im Glaubensbekenntnis definiert ist, als allmächtiger
     Weltenschöpfer und Weltenherrscher. Und wenn dieses Bild fragwürdig wird, genauso wie umgekehrt das rührende Bild einer Vatergestalt,
     die sich ständig alle menschlichen Bittgebete anhört, dann wird Gott insgesamt in Zweifel gezogen.«
    »Und das liegt an der Wörtlichkeitsfalle?«
    »So sehe ich es.«
    Wieder entstand eine Pause, in der erneut das unruhige Wuchern von Vermutungen in ihm begann, bis er fragte: »Was wäre denn
     ein neuer, zeitgerechter Gottesbegriff?«
    Gleich danach sagte er, erschrocken über seine eigene Frage: »Entschuldigen

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