Der Himmel ist kein Ort
Bedingungen
so gemischt, dass er für diese liebessüchtige Frau, die sich fremd in der Gesellschaft fühlte, der geheime Andere geworden
war, auf den sie immer schon gewartet hatte. Von da ab hatte sie damit begonnen, ihm zu schreiben, dass sie trotz aller Unterschiede,
und obwohl sie so viel älter war, vielleicht gerade wegen dieser Distanzen füreinander bestimmt seien. Er war sicher, sie
glaubte es und würde für diesen Glauben alles wagen, alles aufs Spiel setzen. Sie hatte angefangen, ihn zu diesem Glauben
zu bekehren. Vielleicht war das das Geheimnis der Leidenschaft: sich gemeinsam |195| gegen die Welt, ihre Urteile und Gewohnheiten zusammenzuschließen. Er hatte etwas davon zu spüren bekommen: ein Schwebegefühl,
das ihn gegen alle Schwierigkeiten gefeit hatte, aber inzwischen verloren gegangen war. Er war ausgebrannt. Er konnte ihr
nicht mehr folgen. Das hatte er gespürt, als er den Brief und die Karte las und wieder las und es ein fremder Text wurde,
dem er nicht gewachsen war. Vielleicht würde es ja wieder anders werden, wenn er sie sah, wenn er sie umarmen konnte? Sie
schien so vollkommen davon überzeugt zu sein, dass sie auch ihn überzeugen würde. Aber er wusste es nicht, er dachte es nur.
Und er schämte sich, sagte sich, dass er ein Versager sei, sagte sich das, um sich zu bestrafen. Vorläufig wollte er den Brief
nicht wieder lesen, vorläufig nicht.
Er gestand sich ein, dass er in den letzten Tagen oft an Kerstin Karbe gedacht hatte, ihr strähniges Haar, ihre Blässe, ihre
Unscheinbarkeit, ihre Scheu, so wie er sie ein- oder zweimal gesehen hatte, als er nichts weiter von ihr wusste, eine unauffällige,
schutzbedürftige Frau, deren Bild erst nach ihrem Tod persönliche Deutlichkeit für ihn gewonnen hatte. Er hätte gerne mehr
von ihr gesehen, um mehr an sie denken zu können. Als er neulich mit Pfeiffer in Karbes Wohnung gewesen war, hatte er noch
einmal einen verstohlenen Blick auf ihr Foto geworfen und nachts wach liegend von ihr phantasiert. Er hatte sie sich nackt
vorgestellt, ihren mädchenhaften Körper, der sich an ihn geschmiegt und jäh an ihn geklammert hatte, während er sich selbst
befriedigte, um sie |196| so dicht wie möglich zu spüren und zu behalten. Er hatte ihren Namen geflüstert und gedacht, dass sie für ihn die Richtige
sei, die einzig Richtige, obwohl er wusste, dass das Geständnis, das er ihrer eingebildeten, flüchtigen Nähe machte, nur Selbstbetrug
war. Verwirrt und ungetröstet war er danach eingeschlafen. Das darf ich nicht fortsetzen, hatte er am nächsten Tag gedacht.
Das Nagen eines nicht zu stillenden Mangels war in ihm zurückgeblieben, und ein unversöhnliches Urteil über sich selbst, seine
Blindheiten, seine Vernagelungen und seine in der Luft hängenden Gefühle. Was für Reserven hatte er noch, um sich wieder aufzubauen?
Nun stand ihm der Besuch von Dr. Pauly bevor, von dem er bisher nur amtliche Post bekommen hatte. Er entpuppte sich als ein
mittelgroßer Mann von Mitte fünfzig in einem hellen Sommeranzug, der ihm an Bauch und Hüften zu eng geworden war. Er hatte
eine Stirnglatze und dünn gewordene, ausgebleichte Haare, die ehemals blond gewesen waren. In seiner demonstrativen Liebenswürdigkeit
war er schwer einschätzbar. Doch die joviale Art der Begrüßung deutete an, dass er gekommen war, um Harmonie herzustellen
und Probleme, falls welche entstanden sein sollten, zu minimieren. Er kam wie angekündigt am frühen Nachmittag mit einem Dienstwagen.
Der Fahrer hatte anschließend noch einen anderen Auftrag und sollte in zwei Stunden wiederkommen. Pauly entschuldigte sich
eingangs, dass er lange nicht hier gewesen sei. Frau Meschnik, die er herzlich begrüßte, |197| kannte er noch aus der Amtszeit seines Vorgängers. Er fragte, ob sie noch immer so guten Tee koche. »Das Wasser ist schon
aufgesetzt«, hatte sie lächelnd geantwortet. Als sie kurz danach mit der Kanne und Geschirr hereingekommen und mit Paulys
liebenswürdigem Dank wieder gegangen war, hatte Pauly zu ihm gesagt: »Da haben Sie eine hervorragende Mitarbeiterin.«
»Ich weiß«, hatte er geantwortet. »Manchmal ist sie ein wenig streng, aber immer mit Berechtigung.«
»Jaja«, hatte Pauly, wie in tiefe Erinnerungen versunken, gesagt und vorsichtig einen kleinen Schluck von dem heißen Tee getrunken.
Dann hatte er aufgeblickt und ihn mit einem ernsten, Verständnis signalisierenden Ausdruck angeschaut und war zu
Weitere Kostenlose Bücher