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Der Himmel ist kein Ort

Der Himmel ist kein Ort

Titel: Der Himmel ist kein Ort Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dieter Wellershoff
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enthielt, das einer kritischen Überprüfung
     kaum standhalten würde. Zwar hatte er mithilfe seiner Rechtsanwälte den Aufschub der Beerdigung und weitere Untersuchungen
     erreicht. Aber das war es vielleicht schon. Mehr war wohl nicht zu erreichen, außer vielleicht noch ein Kompromiss mit |183| ihrem in die Enge gedrängten Schwiegersohn. Wahrscheinlich war das Ehepaar Sievert bereit, die Strafanträge zurückzuziehen,
     wenn Karbe seine Rechte als Ehemann und Vater aufgab und ihnen die Tochter und das Enkelkind zur Beerdigung in ihrer Nähe
     überließ. Für sie musste das die späte Heilung einer Lebenswunde sein. Sie wollten sich zurückholen, was Karbe ihnen genommen
     hatte. Karbe dagegen konnte ohnehin nicht hierbleiben, in der Nähe der Toten. Auch nicht, wenn die Anklage gegen ihn fallen
     gelassen wurde. Die Schulbehörde würde ihn auf jeden Fall versetzen, und zwar in seinem eigenen Interesse möglichst weit weg
     von hier. Jemand musste ihm klarmachen, dass er bei einem Kompromiss nichts preisgab, was er nicht schon verloren hatte. Natürlich
     musste man mit beiden Seiten reden als ein ehrlicher Makler, der über den Gegensätzen stand. So hatte Eschweiler argumentiert
     und ihm dann nahegelegt, der Makler, der Moderator des Konfliktes könne nur er sein.
    Mit wachsendem Erstaunen hatte er dieser Argumentation zugehört, deren Logik ihn im ersten Augenblick überrumpelt hatte. Eschweiler
     hatte ihm vorgeführt, wie scheinbar unüberwindbare menschliche Konflikte aufgelöst werden konnten, wenn man ihre Mechanik
     durchschaute und außer Kraft setzte. Für ihn war das vor allem ein Darstellungsproblem. Man musste deutlich machen, dass die
     Puzzleelemente ineinanderpassten und dabei für beide Seiten ein Gewinn heraussprang. Aber war das nicht ein bloßes Hirngespinst?
     Wie sollte man Karbe davon überzeugen, dass es für ihn ein Vorteil sei, den Leichnam |184| seiner Frau und dann auch den seines Kindes seinen Schwiegereltern zu überlassen und sich davonzumachen. Und wie sah es in
     der Seele von Kerstin Karbes Eltern aus? Konnte man unterstellen, dass sich irgendetwas bei ihnen bewegen würde, solange sie
     davon ausgingen, dass Karbe der Mörder ihrer Tochter und ihres Enkelkindes war?
    Er hatte diese Einwände nur angedeutet, aber dabei kein gutes Gefühl gehabt. Denn sie hörten sich für ihn wie wohlfeile, bequeme
     Resignation an. Hatte er wirklich sagen wollen, den Menschen sei nicht zu helfen? Eschweiler, ein Mann von ausgeprägter, routinierter
     Verbindlichkeit, hatte ihm nicht mehr widersprochen. Was er als mögliche Problemlösung dargestellt hatte, war für ihn wohl
     nur ein Gedankenspiel gewesen, das ihn nicht weiter beschäftigte. Er hatte es ihm überlassen, daraus praktische Konsequenzen
     zu ziehen.
    Als Eschweiler gegangen war, nach einem unbeschwerten, alltäglichen Abschied, hatte er sich plötzlich völlig niedergeschlagen
     gefühlt. Er hatte versagt. Er war gescheitert. Sein ganzes Verhalten in den letzten zwei Wochen, seine Versuche, die erregte,
     krisenhafte Stimmung in der Gemeinde zu besänftigen und Karbe als einen unglücklichen Menschen gegen die aufkochenden Aggressionen
     in Schutz zu nehmen, hatten sich als hilflose Stümpereien erwiesen, die alles nur noch schlimmer gemacht hatten. Lag es vielleicht
     daran, dass er in der Tiefe seines Bewusstseins keine Klarheit gewonnen hatte, was er wirklich dachte und wirklich empfand?
     War er deshalb von Situation zu |185| Situation geschlingert und hatte notdürftig seine Rolle als Pfarrer auszufüllen versucht, ohne jemanden überzeugen zu können?
    Auch Karbe hatte kein Vertrauen zu ihm gefasst. Es hatte nur vorübergehend so ausgesehen. Aber dann war unter dem zunehmenden
     Druck der öffentlichen Meinung der Kontakt wieder abgerissen, und er hatte sich darauf beschränken müssen, Karbe nach allen
     Seiten gegen Angriffe und Schuldvermutungen zu verteidigen. Karbe hatte sich völlig abgekapselt. Nur einmal war es ihm noch
     gelungen, zu ihm vorzudringen. Allerdings erfolglos. Der Polizeimeister Pfeiffer, den er aus der Unfallnacht kannte und dessen
     Telefonnummer er auf einem zerknautschten Zettel in einer Seitentasche seiner Jacke wiedergefunden hatte, war auf seine Bitte
     trotz einiger Bedenken bereit gewesen, ihn bei einer seiner regelmäßigen Sicherheitsüberwachungen in Karbes Wohnung mitzunehmen.
     Die Kontrollen waren angeordnet worden, weil Karbe seiner Meldepflicht nicht nachgekommen war. Pfeiffer

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