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Der Himmel ist kein Ort

Der Himmel ist kein Ort

Titel: Der Himmel ist kein Ort Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dieter Wellershoff
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umgezogen.«
    »Sondern warum?«
    »Zur Erinnerung. In diesem Kleid habe ich dir gegenübergesessen, als wir uns zum ersten Mal gesehen haben. Du hast es also
     gar nicht bemerkt.«
    »Ich kann mich nur an deinen Blick erinnern.«
    »Das verstehe ich sogar. Es ging mir genauso.«
    Sie machte eine Pause, dann sagte sie: »Zu deiner Beruhigung werde ich die Ohrgehänge abnehmen.«
    »Nein. Das musst du nicht.«
    »Doch, du sollst dich auf das Wesentliche konzentrieren können. Wie damals.«
    »Das ist sowieso unvermeidbar«, sagte er.
    Sie lächelte, dieses Mal ganz unbefangen. Und auch er fühlte sich zum ersten Mal frei.
    »Willst du noch schnell dein Hemd wechseln?«, fragte sie. »Ich bestell dann schon ein Taxi.«
     
    Im dunklen Fond des Taxis suchte sie seine Hand, während sie gleichzeitig dem Fahrer eine Anweisung gab. Dann saßen sie stumm
     nebeneinander, die Hände ineinander verschlungen und nur gelegentlich durch einen leisen Druck sich gegenseitig mitteilend,
     dass |275| man die Nähe des anderen spürte. Mitten aus dieser Versunkenheit heraus hörte er, wie sie dem Fahrer, der ein Ausländer war
     und eine Rückfrage wegen einer möglichen Abkürzung hatte, eine klare Antwort gab, während ihre Hand dafür sorgte, dass der
     Strom zwischen ihnen nicht abriss. So hätte er lange fahren mögen. Und sie vielleicht auch. Aber dann waren sie da.
    Sie bezahlte den Fahrer. Er stieg schon aus. Kühle feuchte Luft schlug ihm entgegen: der Atem der dunklen Strömung der Elbe,
     die hier ihre letzte Strecke bis zur Mündung begann und auf doppelte Breite angeschwollen war. Der Wasserstand schien ziemlich
     hoch zu sein, denn die Brücke zu dem erleuchteten Restaurant stieg an. Es war auf einem vom dunklen Wasser umströmten Schiffsanleger
     aufgebaut.
    »Gehen wir doch rein«, sagte sie, als sie zu ihm trat.
    Ohne zu warten, ging sie voraus. Und wie sie vor ihm eintrat und sofort die Aufmerksamkeit der Bedienung auf sich zog und
     sich an den reservierten Tisch führen ließ, wie sie die Speisekarte studierte und Fragen stellte, beeindruckte ihn. Der Eindruck,
     den sie auf das Personal und offenbar auch auf einige Gäste machte, hing sicher auch mit ihrer auffallenden Erscheinung zusammen.
     Und wahrscheinlich fragte man sich, wie dieses ungleiche Paar zusammengehörte. Vielleicht hielt man ihn für ihren ein wenig
     ungelenken Sohn.
    Ja, dachte er, so ist es. Vermutlich war das auch ihre Sicht der Dinge. Er war für sie das Gegenstück |276| zu ihrem Mann, vor dem sie davongelaufen war. Sie hatte ihn nur vor diesem Hintergrund gesehen. Aber das würde sich ändern.
     Nicht unbedingt zu seinen Gunsten.
    Hör auf damit, sagte er sich. Das sind Hirngespinste, die uns im Wege stehen. Aber sie hatte sich merkwürdig verhalten. Ganz
     anders, als er erwartet hatte. Sie schien genauso wenig in der Situation zu sein wie er.
    Er schaute sie an.
    Was er sah, beunruhigte ihn. Es war der Anfang eines Lächelns, das sich gleich wieder auflöste und in einen Ausdruck von Besorgnis
     verwandelte.
    »Geht es dir gut?«, fragte sie.
    »Ja schon«, sagte er.
    Es hörte sich gewunden an. Wie eine Verleugnung des Gegenteils. Deshalb fügte er schnell hinzu: »Ich möchte mich entschuldigen,
     dass ich dich so plump überfallen habe.«
    »Vergiss das bitte. Jetzt bist du ja da.«
    »Das weiß ich eben nicht so richtig.«
    »Warum nicht? Bist du enttäuscht?«
    »Nein, nein«, sagte er. »Das nicht. Aber ich glaube, wir haben einen Fehler gemacht.«
    »Was für einen Fehler? Was meinst du damit?«
    »Wir sind voreinander weggelaufen.«
    »Wieso? Wir sind doch zusammen.«
    Er nickte, versuchte zu lächeln. Gerne hätte er ihre Hand berührt, aber er fürchtete, dass sie zurückzucken oder erstarren
     würde. Und das würde von allen Seiten beobachtet werden. Sie saßen hier wie auf einer Bühne.
    |277| »Ja, du bist enttäuscht«, sagte sie. »Du hast es dir alles anders vorgestellt mit uns.«
    »Du doch sicher auch. Nach deinen Briefen zu urteilen. Die waren uneinholbar. Das hab ich gleich gedacht.«
    »Wie kannst du jetzt so etwas sagen? Und warum? Warum machst du das? Es ist so zerstörerisch.«
    Ihre Stimme kippte. Um Fassung bemüht blickte sie vor sich hin.
    »Entschuldige bitte. Es ist meine Unsicherheit. Das hängt mit meinen Erfahrungen zusammen. Man sagt manchmal Dinge, die man
     nicht sagen wollte. Entschuldige. Deine Briefe waren wunderbar. Ich konnte nur nicht glauben, dass sie an mich gerichtet waren.«
    »Das verstehe

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