Der Himmel ist kein Ort
nichts erklären. Jetzt bist du ja da. Komm herein.«
Sie hatte ihn sanft am Arm gefasst und in die Diele geführt und mit der anderen Hand die Wohnungstür hinter ihm geschlossen.
Als wären sie jetzt in Sicherheit und nur noch füreinander da, umarmte sie ihn, lehnte sich dann, ohne ihn loszulassen, etwas
zurück, um ihn forschend anzuschauen. Er hatte den Eindruck, dass in der Unruhe ihres Gesichts sich ein anderes Gesicht verbarg,
das von einem alten Unglück gezeichnet war.
»Hallo«, sagte sie leise. Und mit geschlossenen Lippen berührte sie sachte einen Moment lang seinen Mund.
Alles war im Augenblick überraschend für ihn. Er hatte sie an der Hochzeitstafel nur sitzend gesehen, umgeben von lauter Leuten,
die ihn ablenkten, weil sie alle mit ihm reden wollten. Doch während er die anderen Personen gleich danach vergessen hatte,
war ihm ihr Blick in Erinnerung geblieben. Noch am selben Abend hatte sie ihm geschrieben.
Nun hielt er sie in den Armen. Und sie ihn. Im Flurspiegel konnte er ihren Rücken und seine Hände sehen, die eine kleine Falte
ihres Kleides hochgeschoben hatten. Nicht nur ihre Haare waren anders als sein Erinnerungsbild. Sie war auch größer, als er
gesagt hätte, wenn man ihn gebeten hätte, sie zu beschreiben. Aber das ganz Andere für ihn war nicht die Tatsache, dass sie
sich von seiner Erinnerung unterschied, sondern dass sie spürbar gegenwärtig war.
»Wo hast du eigentlich dein Gepäck gelassen?«, |266| fragte sie, als sie in das an die Diele grenzende Wohnzimmer gingen.
»In meinem Auto.«
»Aber du willst doch hierbleiben, oder nicht?«
»Ich weiß ja nicht, was du dir vorstellst.«
»Doch, das weißt du. Du hast doch meine Briefe gelesen. Aber du musst offen sagen, was du dir vorstellst. Wenn du lieber im
Hotel schläfst, akzeptiere ich das. Nichts muss sein, überhaupt nichts. Das sollst du wissen.«
»Ich wollte nicht gleich mit einem Koffer hereinkommen«, sagte er. »Aber ich hole ihn gerne sofort herauf.«
»Das muss nicht sein, Lieber. Zum Abendessen müssen wir sowieso mit deinem Auto oder einem Taxi wegfahren. Ich will nicht
mit Kochen unsere Zeit vertun. Und ich bin eine miserable Köchin, habe es nie richtig gelernt, weil ich in meiner Ehe immer
eine Köchin hatte.«
»Ach ja? Das musst du mir erzählen.«
»Ich hab dir doch geschrieben: Meine Ehe war ein goldener Käfig.«
»Dein Mann war reich?«
»Sehr reich. Er hat großen, von seinem Vater und den Generationen davor geerbten Landbesitz. Vor allem mit Rinderzucht und
dazugehörigen Fleisch verarbeitenden Betrieben. Aber er war auch interessiert an Kultur und ein großer Förderer von Musik.
Im Sommer haben wir meistens in einem unserer Landhäuser gelebt. In den Wintermonaten vor allem in unserem Stadthaus in Buenos
Aires. Da bin ich viel |267| in großartigen Konzerten gewesen, anfangs auch mit meinem Mann.«
»Und jetzt lebst du hier. Wie groß ist die Wohnung?«
»Drei Zimmer, Küche und Bad. Das ist mehr als ausreichend für mich. Ich hab sie, so wie sie ist, mit der ganzen Einrichtung
von einer Kollegin im Konsulat übernommen, die nach Argentinien zurückgegangen ist.«
Er blickte sich um. Hier schien nichts neu zu sein. Das erinnerte ihn an seine Pfarrhauswohnung, obwohl die Möbel anspruchsvoller
waren und besser zueinanderpassten.
»Mir gefällt es hier. Ich finde es einladend und behaglich.«
»Dann kann es uns ja gut gehen. Soll ich uns Tee kochen?«
»Das wäre schön.«
Er schaute ihr nach, wie sie in die Küche ging. Ein leichtes Schwingen in den Hüften. Die unbewusste Reaktion einer Frau,
die spürt, dass sie gesehen wird.
Als er allein war, stand er auf, um sich ein eingerahmtes Foto anzusehen, das neben anderen Utensilien und Erinnerungsstücken
auf dem Aufsatz eines Sekretärs stand. Es war offenbar ein Bild von ihr als junges Mädchen, vielleicht 17 oder 18 Jahre alt.
Grundzüge ihres Gesichtes glaubte er zu erkennen. Es war ein Atelierfoto alten Stils. Sie hatte ein romantisch wirkendes weißes
Kleid an und hielt, als wollte sie gerade zu spielen beginnen, mit leicht geneigtem Kopf eine Violine zwischen Kinn und Schulter
fest. |268| Den Bogen hatte sie wie zum ersten Strich schon den Saiten genähert. In dem Gesicht des Mädchens glaubte er eine träumerische
Inbrunst zu erkennen. Sie erschien ihm als der Anfang einer Lebensspur, die zu der Leidenschaftlichkeit und Phantastik ihrer
Briefe führte, die sie wohl meistens an
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