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Der Himmel kann noch warten

Der Himmel kann noch warten

Titel: Der Himmel kann noch warten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gideon Samson
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vor, aber davon versteht Jani natürlich nichts. Ich verstehe es ja noch nicht einmal selbst. Mit der Zunge und so. Wer sich das wohl ausgedacht hat?
    Wäre ich mit Bart gegangen, dann hätten wir uns vielleicht geküsst. Bart ist ziemlich nett. Nicht für immer, aberdurchaus nett genug zum Küssen. Und Bart wäre bestimmt jeden Tag ins Krankenhaus gekommen. Um zu sehen, wie es mir geht. Und für einen Kuss. Schön wäre das. Aber dafür ist es jetzt zu spät.
    »Du sollst mehr lesen!«, sagt Jani. »Mehr!«
    Ich blättere. Ich lese die Stellen, die ihm gefallen könnten. Jani hört zu.
    »Sehr schön«, sagt Jani, als ich fertig bin.
    »Findest du?«
    »Ja«, sagt Jani, »aber doch kein richtiges Buch.«
    »Wieso nicht?«
    »Alles passiert am selben Ort.«
    »Wie meinst du das?«
    »Es ist alles hier.« Jani zeigt um sich herum. »Im Zimmer, in deinem Bett.«
    »Na und?«
    »Die Leute finden das langweilig«, sagt er. »Du brauchst mehr Abenteuer.«
    Jani ist noch ein kleiner Junge. Und kleine Jungs wollen Abenteuer, das verstehe ich. Aber mein Schreibheft ist nicht für Abenteuer da. Das muss Jani verstehen.
    »Weißt du, woher die Geschichten kommen?«, frage ich.
    Jani schüttelt den Kopf. Sehr schön. Hatte ich mir schon so gedacht.
    »Alle Geschichten kommen aus Griechenland«, sage ich. »Da haben sich die Leute schon vor Jahrtausenden überlegt, dass es nett wäre, sich gegenseitig Geschichten zu erzählen.«
    »Ja und?«
    »Diese Geschichten nannten sie Tragödien. Und diese Tragödien spielten fast immer an ein und demselben Ort. Sie wurden nämlich als Theaterstücke aufgeführt. Und da kann man nicht mal eben schnell woandershin.«
    Jani schüttelt den Kopf. »Unsinn!«, ruft er. »Überall passieren Dinge. Sonst sind es keine richtigen Geschichten!«
    »Das stimmt«, antworte ich, »aber dazu haben die Griechen sich etwas einfallen lassen.«
    »Was denn?« Jani weiß noch so wenig, ich hoffe, er kann mir überhaupt folgen.
    »Einen Boten«, sage ich.
    Bestimmt weiß Jani nicht, was das ist, also erkläre ich es: »Eine Art Postboten. Der kam mit einem Brief oder einer Neuigkeit auf die Bühne und erzählte den Leuten, was anderswo geschehen war.«
    »Das ist Schwindel«, sagt Jani.
    »Ach was«, sage ich. »Die Griechen sahen das nicht so.«
    Da ist Lies. Sie guckt fröhlich. Es wirke gemütlich, wie Jani und ich beieinandersäßen, sagt sie. »Schön, wie ihr so miteinander plaudert.«
    Ich frage Lies, ob es eine Neuigkeit gibt.
    Lies schaut mich erstaunt an. »Eine Neuigkeit?«
    Jani muss ein bisschen lachen. Er versteht mich. »Hast du einen Brief, Lies?«, fragt er. »Wir warten auf einen Brief.«
    Lies schüttelt den Kopf. »Ich weiß nicht, wovon ihr redet«, sagt sie.
    »Macht nichts«, sage ich, aber damit ist Jani nicht einverstanden.
    »Doch!«, sagt er. »Es ist sehr wichtig! Ohne Neuigkeit geht die Geschichte nicht weiter.«
    Jetzt ist Jani auf einmal schon ein ganzer Jan. Auch wenn er demnächst in den Himmel kommt.
    Das Essen ist fast nicht drinnen zu behalten. Dabei ist mir gar nicht mal dermaßen schlecht. Es schmeckt einfach so widerlich. Rote Bete. Ich werde Mama sagen, dass ich, wenn ich aus dem Krankenhaus komme, nie mehr Rote Bete essen will. Ist bestimmt kein Problem für sie.
    »Bist du fertig, Belle?«, fragt Aisha.
    »Ja.«
    »Iss noch etwas Rote Bete.«
    »Nein.«
    »Ist dir schlecht?«
    Ich sage nichts. Dann weiß sie Bescheid. Ganz selten ist die Krankheit zu etwas nütze. Zum Beispiel, um Rote Bete stehen zu lassen.
    »Plaudern wir noch ein bisschen?«, fragt Aisha.
    Ich schüttele den Kopf. Ich weiß, was ich stattdessen will. Ich denke schon seit einer Stunde daran.
    »Möchtest du lieber schlafen?«, fragt Aisha.
    »Nachher.«
    Aisha nickt und geht. Ich nehme mein Schreibheft und schreibe auf, woran ich schon seit einer Stunde denke.
Wie das Küssen entstanden ist
    Vor langer, langer Zeit gaben sich die Leute einfach nur die Hand. Das fanden sie ganz normal. Vom Küssen hatte noch nie jemand gehört, und dass das schön war, konnten sie also nicht wissen
.
    Eines Tages fing irgendwer damit an. Er teilte mit jemand anderem eine Lakritzschnur und sie machten einen kleinen Wettkampf, wer als Erster in der Mitte war. Lakritzschnüre gab es schon lange und dass irgendwer irgendwann auf die Idee zu so einem Spiel kommt, ist logisch. Natürlich waren sie haargenau gleichzeitig in der Mitte, und ihr ratet es schon: Sie gaben sich aus Versehen einen Kuss. Schön!, dachte der eine.

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