Der Himmel über Kasakstan
Weib. Aber er biß die Lippen aufeinander und starrte an die Decke. Sie war weiß getüncht, das ganze Zimmer war weiß … es roch nach Chlor oder Jodoform. Es war steril gemacht worden.
»Wie soll das alles weitergehen?« fragte er kopfschüttelnd.
»Wie in einem Roman, den uns keiner glaubt. Wir betrügen die Welt und uns …«
Als Boris Horn nicht wieder zurück ins Lager kam, kratzte sich der Barackenälteste den Kopf.
»Sie hat ihn einfach dabehalten«, sagte er wütend. »Das ist in den ganzen Jahren noch nicht vorgekommen! Jetzt frißt er die schönen Sachen allein!«
»Er hat die Cholera!« sagte einer vom Arbeitskommando. »Er liegt auf Isolierstation.«
»Die Cholera!« Der Barackenälteste lachte schrill. »Wenn der die Cholera hat, will ich die Pest haben …«
*
Vier Tage arbeitete Erna-Svetlana in der Lagerwäscherei an den Kesseln, als Olga sie wegholte, zusammen mit drei anderen Mädchen.
In diesen vier Tagen hatte Olga Puronanskija die Neue aus Alma-Ata genau beobachtet und beobachten lassen. Wenn sie wirklich als Spitzel in das Lager gekommen war, benahm sie sich gut und zäh und verbarg ihren Auftrag mit einer wunderbaren Energie.
Jeden Tag stand sie acht oder sogar zehn Stunden an den Kesseln und drehte die kochende Wäsche. Ihre Haut wurde rot und blasig, dann schrumpfte sie zusammen und wurde gelb wie Hühnerhaut. Aber sie klagte nicht, sie ruhte sich nicht aus, sie machte sogar den alten Trick der anderen Mädchen nicht nach, sich eine halbe Stunde auf der Latrine auszuruhen und ›frische Luft‹ zu schnappen.
»Was will sie bloß bei uns?« fragte Olga Puronanskija die Vorarbeiterin der Wäscherei. »Umsonst hat man sie doch nicht mit einer so dicken Empfehlung uns auf den Hals gehetzt.«
»Sie sehen vielleicht Gespenster, gosposha«, sagte die Vorarbeiterin. »Ich weiß, warum sie hier ist. Ihr Mann ist drinnen im Lager. Nur um ihn ab und zu zu sehen schuftet sie hier.«
»Ihr Mann!« Olga lachte höhnisch. »Du glaubst das Märchen, Eselin!«
»Er heißt Boris Horn.«
»Ein Name! Ich kann dir tausend Namen nennen! Glaubst du, nur um den Kerl zu sehen, arbeitet sich eine Frau so krumm?«
» Diese Frau – ja.«
Nachdenklich ging Olga Puronanskija weg und holte die vier Mädchen aus dem Kesselhaus.
»Ich habe eine schöne Arbeit für euch«, sagte sie gehässig und musterte Erna-Svetlana von der Seite. Sie hat einen kleinen Bauch, dachte sie dabei. Sollte es wahr sein mit der Schwangerschaft? Ich werde sie morgen zu der Kolzwoskaja schicken. Ich muß es wissen. »Ihr werdet hinübergehen in das Lazarett und die Wäsche holen.« Sie schob die Oberlippe empor und lächelte. Es war mehr ein Fletschen und sah abscheulich aus. »Aber ziert euch nicht, ihr Gänse. Und wenn ihr euch vor dem Gestank des Eiters oder Blutes ekelt, dann riecht an euch herunter … ihr stinkt fast ebenso!«
Sie ging weg und ließ die Mädchen stehen.
»So ein Aas«, sagte die eine laut. »Man wird sie noch eines Tages umbringen!«
Dann gingen sie hinüber zu dem Lagerlazarett.
Ein Sanitäter empfing sie und wies sie hinein in die langgestreckte Steinbaracke.
»Ihr wißt ja, wo die Sachen liegen«, sagte er gleichgültig. »Aber vier Weiber sind zu wenig. Wir haben neunundsechzig Abgänge. Ihr müßt dreimal gehen.«
Erna-Svetlana schob die Schultern hoch. Es fror sie plötzlich – Neunundsechzig Tote an einem Tag … wie mochte es hinter den hohen Holzpalisaden aussehen? In welch einer Hölle lebte Boris?
Sie ging mit gesenktem Kopf den langen Gang entlang. Sie sah nicht, wie die anderen Mädchen in zwei Zimmern verschwanden, wo die schmutzige Wäsche aufbewahrt wurde. Sie ging weiter, immer den Gang entlang, vorbei an den vielen Türen, hinter denen Skelette erlöst wurden.
Vor einer Tür blieb sie stehen. SARASA stand in roter Schrift darauf. Infektion.
Wäsche, dachte Erna-Svetlana. Ach ja, ich soll hier ja Wäsche holen. Sie sah sich um; die anderen Mädchen waren nicht mehr da. Auch in der Infektionsabteilung wird es schmutzige Wäsche geben, dachte sie. Ich darf hier nicht herumstehen … ich muß ja Wäsche holen.
Sie hob die Hand und legte sie auf die Klinke der Tür.
Noch einmal las sie die flammend rote Schrift SARASA.
Dann drückte sie die Klinke herunter.
Das Zimmer war fast leer, kahl, trostlos. Nur ein einzelnes Bett stand an der Rückwand. Das Fenster war verhangen. Das Halbdunkel verstärkte noch die Leere des Raumes. Es roch nach Desinfektionsmitteln und abgestandener
Weitere Kostenlose Bücher