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Der Himmel über Kasakstan

Der Himmel über Kasakstan

Titel: Der Himmel über Kasakstan Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinz G. Konsalik
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in mir entdeckst! Bloß das nicht! Wenn du das sagst, jage ich dich in die tiefste Sohle des Berges! Wie den Simulanten dort.« Sie zeigte auf das erkaltete Reagenzglas. »Warum ißt du nichts? Du mußt doch Hunger haben bei dem Fraß im Lager.«
    »Es leben Tausende davon.«
    »Sie vegetieren! Aber du sollst essen und leben.«
    »Warum?« Boris sah die Kolzwoskaja starr an. Ihre Blicke trafen sich wie zwei Schwerter … selbst das Klirren hörten sie – unhörbar in ihren Herzen. »Wollen Sie es machen wie auf den großen Sowchosen, wo man die Bullen starkfüttert?!«
    »Du bist ein Idiot, Boris.« Die Ärztin erhob sich und ging mit kleinen, gleitenden Schritten zu einem alten bemalten Schrank. Sie öffnete die obere Tür, holte eine Flasche Wodka hervor und zwei Gläser. »Wenn du nicht der Schützling meiner Natascha wärest, hätte ich dich längst weggejagt wie einen räudigen Hund.« Sie sah sich um, während sie die Flasche entkorkte. »Oder glaubst du, ich wäre auf die Leichen angewiesen, um sie im Bett aufzuwärmen?! Was hast du von mir gedacht?«
    »Nichts«, log Boris.
    »Hat man dir im Lager nichts erzählt von mir?«
    »Nein.«
    »Dann wird es kommen. Glaube nichts davon. Es sind Lügen. Sie haben alle einen Koller, wenn sie einige Monate hier sind. Aber nach zwei Jahren legt sich das.« Sie lachte schrill. »Sie trocknen aus, mein Junge.«
    »Ja«, sagte Boris, wieder hilflos wie vorher.
    »Ich will dir helfen, Boris.« Die Kolzwoskaja kam auf ihn zu. Sie hielt die beiden Gläser mit dem Wodka in den Händen und lächelte. Jetzt sah sie fast schön aus, gefährlich und tierhaft. »Trink ein Glas. Das verändert die Welt.«
    »Ich würde umfallen davon. Ich kenne keinen Schnaps mehr.«
    »Du sollst umfallen, mein Junge.«
    »Was wird Oberleutnant Kaljus sagen?«
    »Kaljus! Er ist ein Floh, der herumhüpft und denkt er sei ein Elefant! Er wird dich vorerst nicht wiedersehen.«
    »Nicht wiedersehen?«
    »Trink!« Das war ein harter Befehl. Die Ärztin hielt Boris das Wodkaglas hin. Gehorsam nahm er es, setzte es an die Lippen und trank es in einem Zug aus. Er hatte das Gefühl, zerspringen zu müssen, er rang nach Luft, warf die Arme empor, und Tränen schossen in seine Augen.
    »Meine Kehle«, stammelte er. »Sie ist verbrannt …«
    Die Kolzwoskaja lachte laut und setzte sich zurück auf das Sofa. »Nimm Platz, Junge«, sagte sie und zeigte auf einen Stuhl. »Und iß endlich. Iß dich kugelrund.« Sie beugte sich zu ihm vor. Ihre Brüste zeichneten sich von der dünnen grünen Bluse ab. Boris biß die Zähne fest zusammen, daß seine Gaumenmuskeln schmerzten.
    Aber er aß. Er aß die ganzen Brote auf, die ganzen Wurstscheiben, die beiden Birnen. Er schämte sich, daß er es tat, aber er hatte nicht die Kraft, mit dem Essen aufzuhören … er aß, aß und spürte, wie die Speise in seinen leeren Magen rann und das Gefühl des Sattseins durch seinen Körper zog wie eine wundervolle Trägheit, wie eine Sommermüdigkeit, die einen überfällt, wenn man in der Sonne liegt, in die ziehenden weißen Wolken am blauen Himmel starrt und das Rauschen der Baumzweige und das Zwitschern der Vögel wie eine riesige Schaukel sind, in der man selig einschläft wie ein gewiegtes Kind.
    »Satt?« fragte die Kolzwoskaja, als der Holzteller leer war.
    »Ja. Danke.«
    »Sprechen wir jetzt vernünftig weiter, Boris. Natascha Trimofa war Chirurgin, ich bin Internistin. Natascha hat in Kasan meinen Vater operiert und ihn gerettet, als die anderen Holzköpfe von Parteiärzten ihn aufgegeben hatten. Sie war eine blendende Ärztin, die Natascha. Damals habe ich ihr versprochen, wo und wann es auch immer sei, ihr zu helfen, wenn sie einmal mich brauchen würde. Ich glaube, das ist heute geschehen. Sie kann mich nicht mehr bitten … aber ihr Tod für dich ist eine Bitte, die mehr als alle Worte sagt.« Sie sah Boris mit geneigtem Kopf an. »Hast du sie sehr geliebt?«
    »Nein.«
    »Nicht?« Die Kolzwoskaja sprang auf. Ihre Augen glühten zornig. »Du hast sie nur getäuscht, hingehalten?!«
    »Sie hat nicht mir geholfen, sondern Erna-Svetlana.«
    »Wer ist Erna-Svetlana?«
    »Meine Frau …«
    Die Kolzwoskaja wandte sich ab und sah durch die Gardine hinaus auf die Lagergasse. Ein Kader der Bergarbeiter kam von der Schicht zurück. Sie schwankten durch den Staub, mit hohlen Augen, fahler Haut und kahlköpfig.
    Es war ein Bild, das sie seit vier Jahren sah, solange sie Lagerärztin in III/2398 war. Aber heute schauderte sie vor

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