Der Himmel über Kasakstan
diesem Bild zurück. Sie sah Boris inmitten der Kolonne. Es war schrecklich.
»Sie tat es wirklich nur aus Menschenfreundlichkeit?« fragte sie fast ungläubig.
»Und weil ich Borkin erschlagen habe, der sie geschändet hatte.«
Die Kolzwoskaja fuhr herum. »Borkin hat Natascha …?« schrie sie fast.
»Ja. Sie sagte es mir selbst.«
»Und du hast ihn umgebracht?! Du hast Natascha gerächt?! Du hast diesen Sauhund umgebracht mit deinen Händen?! O Boris – ich möchte dich dafür küssen! Hat Natascha dich nicht dafür geküßt?«
»Ja –«
Die Kolzwoskaja hob die Hand und streichelte Boris über das bleiche Gesicht. Es war ein zärtliches, fast mütterliches Liebkosen. »Ich werde dich retten, mein Junge … Es wird keiner sagen, daß ich undankbar bin …« Sie nahm sein Gesicht zwischen ihre Hände, küßte ihn auf den zitternden, verkniffenen Mund und lächelte ihn an. »Du hast die Cholera, Boris«, sagte sie, als spräche sie ein Kosewort. »Du wirst in die Isolierstation kommen.«
»Wenn sie es merken, Kapitän.«
»Nenn mich Wanda, Boris.«
»Bei der nächsten Kontrolle –«
»Sie gehen an der Isolierbaracke vorbei. Sie haben eine schreckliche Angst vor Bazillen, Viren und allen Ansteckungen. Sie zittern vor dem Wort ›Sarasa‹ (Infektion) wie vor dem leibhaftigen Teufel. Wer hinter dem Wort Sarasa liegt, ist in Sicherheit.« Die Kolzwoskaja lachte und sah Boris tief in die flackernden Augen. »Küß mich«, sagte sie plötzlich leise. »Komm … stell dich nicht an … küß mich!«
Sie schloß die Augen, schob den Kopf vor und reichte Boris ihren Mund. Ihre Lippen waren leicht geöffnet, rot und voll. Ihr Atem strich heiß über sein Gesicht.
»Komm«, flüsterte sie noch einmal.
Da küßte er sie, widerwillig, hart, brutal fast. Er umfaßte sie, drückte sie an sich … sie waren fast ein Körper. Mit geschlossenen Augen, den Kopf weit zurückgeworfen, mit offenen Lippen, als sei der Mund gewaltsam aufgerissen worden, stöhnte sie auf und hing in Boris' Armen.
»Du Tier …«, sagte sie heiser. Aber es war keine Beschimpfung, es war eine Liebkosung. »O du wildes Tier. Ich werde Natascha ein Denkmal setzen, daß ihr Tod dich zu mir geführt hat!«
*
Zwei Stunden später wurde der Strafgefangene und Lebenslängliche mit der amtlichen Nummer 23.919 auf einer zugedeckten Trage von zwei Sanitätern aus dem Zimmer der Kapitän-Ärztin Wanda Kolzwoskaja weggetragen in das Lagerlazarett.
Die Ärztin ging neben der zugedeckten Trage, ein Mundtuch um den Kopf, mit Gummihandschuhen. Alle, die den kleinen Zug kommen sahen, wichen ihm aus, flüchteten fast aus der Nähe oder drückten sich in achtbarer Entfernung an ihm vorbei. Auch Oberleutnant Sergeij Pantalonowitsch Kaljus wandte sich ab und eilte einen anderen Weg, als er die Bahre sah.
Cholera! Die Geißel Asiens! Der Tod, gegen den es keinen Widerstand gab.
Die Bahre wurde in den Flügel IV getragen, in das Zimmer 4, auf dessen Tür in großer roter Schrift das Wort ›SARASA‹ stand. Infektion!
In dieses Zimmer wagte keiner einzutreten. Nur die Kolzwoskaja betrat es mit einer jungen Sanitätsgehilfin. Bevor Boris Horn eingeliefert wurde, hatte sie das Zimmer 4 ausräumen lassen. Die Typhusfälle, die es bisher belegt hatten, wurden auf die Nebenzimmer verteilt. Zimmer 4 wurde nur für den einen Cholerakranken reserviert.
Im Lagerlazarett wagte keiner zu fragen, warum. Was die Kolzwoskaja tat, war richtig. Einmal – es war vor eineinhalb Jahren – hatte ein junger Leutnant, der neu nach III/2398 kam, es gewagt, eine Diagnose der Kolzwoskaja anzuzweifeln. Die Ärztin hatte daraufhin sich geweigert, alle anderen Offiziere zu behandeln, vor allem diejenigen, die mit Kavalierskrankheiten zu ihr kamen. Drei Tage später lag der junge Leutnant im Mannschaftslazarett. Unbekannte hatten ihn so niedergeschlagen, daß er nach seiner Heilung als untauglich aus der Roten Armee entlassen werden mußte.
Als die Tür sich hinter der Trage geschlossen hatte und die Kolzwoskaja allein im Zimmer 4 war, riß sie die Decke von dem Körper Boris'. Sie lächelte ihm zu, kniete an der Bahre nieder und küßte ihn leidenschaftlich.
»Hier wirst du bleiben«, sagte sie leise. »Du wirst der längste Lazarettinsasse werden, der je in einem russischen Lazarett gelegen hat.«
»Ich habe Angst«, sagte Boris ehrlich.
»Solange ich hier Ärztin bin, brauchst du sie nie mehr zu haben.«
Vor dir habe ich Angst, wollte er schreien. Vor dir, du Satan von einem
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