Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Himmel über Kasakstan

Der Himmel über Kasakstan

Titel: Der Himmel über Kasakstan Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinz G. Konsalik
Vom Netzwerk:
Sie von mir?«
    »Ich will mit dir sprechen. Weiter nichts.« Wanda Kolzwoskaja nahm mit einer Klammer das Reagenzglas aus der Bunsenflamme und hielt es gegen das Sonnenlicht, das durch die Gardine in den Raum flutete wie ein goldener Fluß. »Ich dachte es mir … er simuliert«, sagte sie zu sich selbst. »Ich werde ihn für diesen Betrug in die tiefste Bleisohle stecken.«
    Sie legte das Reagenzglas weg und löschte den Bunsenbrenner. Boris biß die Lippen aufeinander.
    »Er hat bestimmt nur ein paar Tage Ruhe gewollt«, sagte er heiser.
    Die Kolzwoskaja fuhr herum. »Wer?«
    »Der, von dem Sie sprechen. Der arme Hund, der simuliert, um ein paar Tage lang der Hölle dort unten im Berg zu entfliehen. Er ist ein Mensch wie Sie und ich … weiter nichts. Ein Mensch! Es ist so unverständlich niedrig, daß Menschen sich gegenseitig so behandeln …«
    »Oho!« Die Kolzwoskaja setzte sich wieder auf das Sofa. »Kleine defaitistische Propagandareden?«
    »Ich habe nichts mehr zu verlieren, Kapitän. Ich bin ein Lebenslänglicher.«
    »Ich weiß.« Die Ärztin nickte. »Ich habe deine Papiere studiert. Darum ließ ich dich rufen. Du kanntest Natascha Trimofa?«
    »Ja.« Boris riß die Augen auf. Die Kolzwoskaja sah hinaus auf die Lagergassen. Ihr schwarzes, ungepflegtes Haar leuchtete in der Sonne wie poliertes Ebenholz. Sie war nicht hübsch … aber ihr etwas grobes, breites Gesicht war interessant … es war wie eine Brücke, die in Asien begann und in Europa endete.
    »Hatte sie einen schweren Tod?«
    »Einen grausamen. Gasbrand …«
    »Und sie starb, um dir zu helfen?«
    »Ja. Sie bereitete die Flucht vor. Und wir wären durchgekommen, wenn der Bär nicht gewesen wäre.«
    Die Kolzwoskaja nickte wieder. »Chotschesch kuschatj?« fragte sie. (Willst du essen?)
    »Nein«, sagte Boris. Er dachte an seine Barackengenossen und an ihre Worte: Wenn sie dir etwas gibt, bring es mit. Schwöre, daß du es mitbringst. Und wenn du bei ihr geschlafen hast, nimm mit, was du kriegen kannst. Oft nimmt sie einen wie uns nur einmal oder zweimal … dann kommt ein neuer Transport mit frischeren Männern. »Ich habe keinen Hunger«, sagte er rauh.
    »Ich vergifte dich nicht.«
    Sie griff seitlich in einen kleinen Schrank neben dem Sofa und schob eine hölzerne Platte auf den Tisch. Sie war mit einigen Broten und Wurststücken belegt, mit Käse und zwei Birnen.
    Sie hat alles vorbereitet, durchfuhr es Boris. Er wich wieder bis zur Tür zurück und starrte die Ärztin an.
    »Ich habe eine Frau, die ein Kind bekommt«, sagte er heiser vor Erregung. Es war ihm, als habe er keinen Speichel mehr im Mund und die Kehle wäre ausgetrocknet und sandig.
    »Ich hatte, mußt du sagen.« Die Stimme der Kolzwoskaja war gleichgültig, fast nüchtern. »Wer hier ist, hat nichts mehr. Er träumt nur noch von draußen. Aber von Träumen wird man nicht satt …«
    »Vielleicht nicht der Körper. Aber die Seele –«
    »Die Seele!« Die Kolzwoskaja dehnte sich auf dem Sofa. Ihre Brüste spannten die grüne Bluse. Sie waren rund und groß und paßten nicht zu den schlanken Hüften und langen Beinen. »Das Schönste am Menschen ist nicht das Unsterbliche, sondern das, was sterblich ist. Das müßtest du mit deinen 21 Jahren schon erkannt haben. Mit dem Glauben an die Seele kannst du ein Märtyrer werden … mit dem Glauben an den Körper aber wirst du ein Artist des Lebens.«
    »Bis man abstürzt –«
    »Im Angesicht des Triumphes! Gibt es Schöneres?! Natascha Trimofa sagte einmal –« Sie stockte und blickte Boris wieder mit ihren schwarzen Augen an, die schräg in dem eurasischen Gesicht standen. Aber es war ein anderer Blick als vorhin … weicher, weniger gierig, fast melancholisch. »Natascha! Sie war meine Freundin, Boris. Wir haben in Kasan zusammen Medizin studiert.«
    »So?« sagte Boris hilflos. Er empfand plötzlich weniger Angst vor der Kolzwoskaja. Wie er so an der Tür stand, sprungbereit, um wegzulaufen, kam er sich plötzlich dumm, einfältig, ja kindisch vor. Er trat wieder in das Zimmer hinein.
    »Später ging sie zu den Partisanen … sie wurde berühmt. Und nun dieses Ende! Eine Bärentatze … auf der Flucht aus Rußland. War sie verrückt, Boris?«
    »Nein. Sie hatte die Schnauze voll!« sagte Boris Horn grob.
    »Das haben wir alle.« Die Kolzwoskaja lächelte, als sie Boris' erstaunten, ja irritierten Blick sah und die Sprachlosigkeit, die sich seiner bemächtigte. »Du staunst, mein Junge? Sage nicht, daß du auf einmal eine Seele

Weitere Kostenlose Bücher