Der Himmel über Kasakstan
Luft.
Erna-Svetlana sah hinüber zu dem Bett. Sie war an der Tür stehengeblieben. Von dem Kranken sah sie nur ein paar dunkle Haare. Er lag auf der Seite und schlief, die in einem weißen Bezug steckende Decke bis über die Augen gezogen.
»Ist hier Wäsche?« fragte Erna-Svetlana zaghaft. Sie blickte sich um. Die Kahlheit des Zimmers war bedrückend. Nicht einmal ein Stuhl ist hier, dachte sie. Und er liegt ganz allein … vielleicht ist er schon tot. Er bewegt sich gar nicht.
Sie wollte die Tür wieder öffnen, als sie mit Schwung aufgestoßen wurde und gegen ihre Brust prallte. Wanda Kolzwoskaja stand auf der Schwelle, mit flammenden Augen und geballten Fäusten, als sie sah, daß jemand trotz der warnenden Buchstaben auf der Tür das Zimmer betreten hatte. Sie blickte hinüber zu dem schlafenden Mann, stieß den Kopf zur Seite und zischte Erna-Svetlana an.
»Raus, du Luder!«
»Ich wollte nur schmutzige Wäsche –«
»Raus!«
Die Ärztin faßte Erna-Svetlana an den Schultern und warf sie fast aus dem Zimmer auf den Flur. Dann schloß sie leise die Tür, damit Boris nicht erwachte, und wandte sich zu dem Mädchen um, das zitternd an der Wand stand.
»Mitkommen!«
»Gosposha –«
»Siehst du nicht die Schrift auf der Tür? Oder kannst du Aas nicht lesen?«
»Doch. Aber Olga Puronanskija sagte uns, daß wir –«
»Ich werde diese Olga sprechen! Mitkommen!«
Sie stieß Svetlana vor sich her bis an das Ende des Ganges. Dort war das Ordinationszimmer der Kolzwoskaja. Sie schob das Mädchen in das Zimmer und setzte sich mit verkniffenem Gesicht auf den Stuhl. Sie musterte Erna-Svetlana, wie nur eine Frau eine andere Frau mustern kann, und schob die Augenbrauen verwundert hoch.
»Du bist schwanger?«
»Ja.«
»Was machst du dann in Ust-Kamenogorsk? Bist du die Frau eines Soldaten?«
»Nein. Mein Mann ist im Lager.«
»Lebenslänglicher?«
»Ja.« Erna-Svetlana nickte. Plötzlich weinte sie. Sie wunderte sich selbst darüber. Seit Wochen hatte sie keine Tränen mehr gehabt … es war, als sei sie ausgetrocknet gewesen. Selbst die Qual in der Wäscherei des Lagers, die langen Nächte, in denen sie auf der Holzpritsche der Mädchenbaracke lag und an die Decke starrte, die in Griffhöhe über ihr war, weil man ihr das oberste Bett gegeben hatte, alles Leid, das in Gedanken und körperlich auf sie zukam, vermochte nicht, Tränen zu erzeugen. Und jetzt weinte sie … sie floß fast weg … ihr schmales, wie zwischen zwei Riesenhänden flachgedrücktes, blasses Gesicht war naß von Tränen.
Wanda Kolzwoskaja ließ sie weinen. Sie zündete sich eine Zigarette an, eine Papyrossi mit langem Pappmundstück, das sie zweimal eindrückte.
»Politisch?« fragte sie, als sich Erna-Svetlana auf einen Stuhl setzte, weil sie spürte, wie ihre Beine weich wurden, als lösten sich auch die Knochen in Tränen auf.
Svetlana schüttelte den Kopf. Sie würgte an den Worten.
»Er hat einen Mann erschlagen … Meinen djadja … djadja hat mich …« Sie stockte und ließ den Kopf auf die Brust sinken. Die Kolzwoskaja schob die Unterlippe vor. Mit bebenden Fingern zerdrückte sie die kaum angerauchte Zigarette auf der Tischplatte. Eine wilde Erregung kroch in ihr empor und jagte das Blut wie rasend durch das Herz und die Adern.
»Wer bist du?« fragte sie rauh.
»Erna-Svetlana Bergner aus Judomskoje …«
Die Kolzwoskaja atmete ein paarmal tief.
»Und dein – dein Mann?« Das Wort war wie ein zäher Brei, der im Halse steckenblieb und auf den Lippen festklebte.
»Boris Horn –«
»Boris –«, wiederholte sie heiser. Erna-Svetlana sah zu der Ärztin hinüber. Der Klang der Stimme machte sie stutzig.
»Kennen Sie ihn, gosposha?«
»Wie soll ich gerade deinen Boris kennen?« Die Kolzwoskaja lachte. Aber es klang gequält und rauh. »Hier laufen 3.000 Boris' herum!« Sie beugte sich vor und sah Erna-Svetlana mit bösen, funkelnden Augen an. »Was wolltest du in dem Isolierzimmer? Was hat man dir erzählt?!«
»Ich suchte schmutzige Wäsche.«
»Lüge nicht!«
»Auf Ehr und Gewissen, gosposha!«
»Was erzählt man draußen von mir?«
»Ich habe nichts gehört. Doch ja –«
»Was?!«
»Sie sollen sehr streng sein.«
»Das ist nicht wahr.« Die Kolzwoskaja zündete sich wieder eine Zigarette an. »Ich bin ein Satan!«
Verstört erhob sich Erna-Svetlana von dem Stuhl. Sie wich an die Wand zurück, kreuzte die Arme über der Brust und starrte die Ärztin an, als erblicke sie wirklich einen Teufel.
»Kann ich
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