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Der Himmel über Kasakstan

Der Himmel über Kasakstan

Titel: Der Himmel über Kasakstan Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinz G. Konsalik
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gehen?« fragte sie mit kläglicher Stimme.
    »Nein!«
    »Was wollen Sie noch von mir?«
    »Ich will wissen, was du hier willst! Warum bist du nach Ust-Kamenogorsk gekommen?«
    »Um bei Boris zu sein.«
    »Du wirst ihn nie sehen!« sagte die Kolzwoskaja gehässig.
    »Vielleicht doch. Wenn er zur Arbeit herausmarschiert … wenn er zurückkommt … Vielleicht habe ich Glück, und er bekommt ein Kommando in der Küche … Ich will ihn ja nicht sprechen, er soll gar nicht wissen, daß ich hier bin … Nur sehen will ich ihn … von weitem sehen … sehen, daß er lebt …« Sie weinte wieder und wischte sich mit beiden Händen die Tränen von dem eingefallenen, schmalen Gesicht. Wanda Kolzwoskaja biß die Zähne aufeinander und starrte zum Fenster hinaus auf den großen freien Platz, der vor den Krankenbaracken lag. Dort standen einmal in der Woche die Neuankömmlinge … meistens freitags … 300 oder 500 Männer, bunt zusammengewürfelt aus allen Schichten … Professoren neben Traktoristen, bärtige Muschiks neben Kameltreibern, elegante ehemalige Parteibeamte neben Landstreichern und Tagedieben. Fanatiker und Fatalisten, Unschuldige und Schuldige … Sie marschierten alle nackt an der Kolzwoskaja vorbei und hörten ihre harte Stimme: Arbeiten! Bergwerk!
    »Vielleicht ist er schon tot?« sagte die Ärztin. Svetlana zuckte zusammen.
    »Das kann nicht sein.«
    »Warum?«
    »Seit sechs Wochen sehe ich mir jeden Toten an, der aus dem Lager kommt. Wir müssen sie ja ausziehen, hat die Puronanskija befohlen. Boris war nicht dabei.«
    »Du wartest umsonst.« Die Kolzwoskaja warf die Zigarette auf den Boden und zertrat sie. Es war ein Stampfen, in dem ihre ganze aufgestaute Erregung lag. »Es wäre besser, du gehst zurück nach Judomskoje. Sorge für dein Kind, heirate einen anderen Mann, krieg noch zehn andere Kinder … so vergißt man am besten einen Mann, der als Lebenslänglicher genauso tot ist wie ein Toter.«
    »Ich werde nie einen anderen lieben als Bor«, sagte Erna-Svetlana. Es war ein so tiefes Geständnis, daß es wie ein kalter Strom durch den Körper der Kolzwoskaja zog.
    »Du bist eine blöde Gans«, sagte sie. »Lache dir einen Soldaten an … Ich will dir einen besorgen, der dein Kind großzieht wie sein eigenes.«
    Svetlana schüttelte den Kopf. Ihre goldenen Haare flogen um ihr Gesicht wie eine Woge feinstgesponnener Schleier. Sie hat herrliches Haar, dachte die Ärztin voll giftigen Neides. Ich werde der Olga Puronanskija sagen, daß sie dem Weibsstück die Haare abschneidet. Mit einem kahlen Kopf, glatt wie eine Billardkugel, soll sie herumlaufen, daß die Männer über sie lachen und ihr verdammter Stolz im Herzen zerbricht unter dem Spott der Umwelt.
    »Ich will nicht«, sagte Svetlana laut.
    »In Ust-Kamenogorsk hat keiner etwas zu wollen!« Die Kolzwoskaja erhob sich brüsk. »Entweder du gehst zurück nach Judomskoje oder ich verheirate dich mit einem mongolischen Soldaten! Du kannst wählen!«
    »Gosposha –«, stotterte Svetlana entsetzt.
    »Geh!« sagte die Kolzwoskaja hart.
    »Ich liebe Boris!« schrie Erna-Svetlana. Die ganze Not ihres Herzens, die ungeheure Qual der vergangenen Wochen lag in diesem Aufschrei.
    »Er ist das einzige, was mir geblieben ist!«
    »Selbst das ist zuviel für dich!« Die Ärztin sah Svetlana mit einem Haß an, vor dem diese zurückwich und hinter dem Rücken nach der Türklinke tastete. »Du bist ein Nichts! Vergiß das nicht! Ein Nichts! Eine Null! Du hast hier keinen Willen, kein Herz, kein Gefühl, keine Sehnsucht, keine Gedanken … du hast nur die Luft zum Atmen. Und auch die drehe ich dir ab, wenn du nicht gehorchst. Hast du verstanden, du trächtige Hündin?«
    »Ja, gosposha«, stammelte Erna-Svetlana. Sie hatte die Klinke gefunden und drückte sie herunter. Dann wirbelte sie herum und rannte aus dem Zimmer, den Gang hinab, mit fliegendem Rock, vorwärtsschnellenden Beinen, als würde sie verfolgt von diesen hassenden Blicken, der harten mitleidlosen Stimme und dem Grauen der drohenden Worte.
    Unbeweglich saß die Kolzwoskaja hinter ihrem Schreibtisch und sah auf die offene Tür. Gedanken, so grausam, daß sie selbst davor zitterte, durchjagten sie.
    Nie wird sie Boris wiedersehen, schwor sie sich. Und wenn ich sie von Olga Puronanskija umbringen lasse. Für 1.000 Rubel tut die Olga alles. Es kann ein Unfall sein, wenn sie in die brodelnde Lauge fällt und unter der kochenden Wäsche erstickt.
    Wanda Kolzwoskaja nahm sich vor, schon an diesem Tage mit Olga

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