Der Himmel über Kasakstan
breitem Grinsen:
»Väterchen Stalin ist tot! Mausetot!«
Darja stieß einen spitzen Schrei aus, und Tagaj erblaßte so plötzlich, wie er rot geworden war. Konjew genoß dieses Schauspiel mit einer fast perversen Lust.
»Das – ist – nicht – wahr –«, stotterte Tagaj.
»Wenn ihr faulen Hunde nicht so lange im Bett herumlümmeln würdet, hättet ihr es am Radio gehört. Seit einer halben Stunde spielen sie klassische Musik von Borodin und Mussorgskij.«
Tagaj sprang aus dem Bett. Er rannte im Nachthemd ans Radio und stellte es an. Nach einigem Knacken und Rauschen und Knattern hörte man die tragischen Klänge einer Sinfonie. Tagaj sah auf die Uhr. Dabei zitterte seine Hand, als habe er Schüttelfrost.
»Was wollen Sie von uns, Genosse?« fragte er leise.
»Sie verlassen sofort die Datscha! Stalin hat sie Ihnen gegeben … Sie müssen warten, ob Malenkow oder Chruschtschow sie Ihnen auch gibt.«
»Mein Gott – Chruschtschow!« sagte Darja unvorsichtig, Tagaj bedachte sie mit einem bösen Blick. Konjew riß die Augen auf.
»Sie stehen nicht gut mit Genossen Chruschtschow?«
»Er mag meine Musik nicht recht«, sagte Tagaj ausweichend. »Er hat ein anderes Stilgefühl!«
»Dieses Stilgefühl wird aber in Zukunft maßgebend sein!« schrie Konjew voller Wonne. »In einer Stunde sind Sie weg von der Datscha! Verstanden?!«
Er spuckte noch einmal zur Bekräftigung auf den Boden. In den Revolutionstagen hatte er den zaristischen Offizieren und Kaufleuten ins Gesicht gespuckt … aber mittlerweile war man gesetzter und kultivierter geworden. Unter den ängstlichen Blicken der Tagajs verließ er die Datscha und stand eine Weile auf dem Hof vor dem Zwinger, in dem noch immer die Bluthunde Borkins lebten. Tagaj hatte sie übernommen … aber sie waren zahmer geworden, dicker, fast fett. Sie lagen am Gitter und sahen Konjew aus friedlichen Augen an. Borkin hatte sie hungern lassen und ihnen statt Wasser Rinder- oder Schweinsblut zu trinken gegeben … jetzt waren sie bequem wie Tagaj … bürgerlich infiziert, wie Konjew in diesem Augenblick dachte.
Zu Hause erwartete ihn bereits Marussja. Tschetwergow hatte wieder angerufen. Das amtliche Bulletin war herausgekommen. Stalin war offiziell tot! Zu Ehren des Toten hatten sich Millionen Arbeiter und Bauern spontan verpflichtet, das tägliche Soll um 25 Prozent zu erhöhen.
Konjew rief sofort in Alma-Ata an. »Was ist das, Genosse?« rief er entsetzt. »Jetzt, wo er tot ist, sollen wir noch mehr arbeiten. Ich dachte –«
»Denken, Konjew!« Die Stimme Tschetwergows war müde. »Wer denkt denn hier?! Sorgen Sie dafür, daß Judomskoje ebenfalls melden kann, daß die Bauern spontan und aus Trauer arbeiten.«
»Die Genossen erschlagen mich, wenn ich es Ihnen sage!«
»Wir wollen der Welt ein Beispiel geben, wie der Tod unseres Helden die ganze Nation aufreißt und zusammenschweißt! Wir wachsen über uns selbst hinaus in unserem Schmerz …«
»Sind Sie krank, Tschetwergow?« fragte Konjew ängstlich.
»Ich wünsche eine spontane Reaktion!« schrie Stephan Tschetwergow. »Ende!«
Langsam legte Ilja Sergejewitsch Konjew den Hörer zurück. Er sah Marussja an, die neben ihm stand und an der Schürze herumwrang.
»Was ist, Iljascha?«
Konjew schüttelte den Kopf, als sei er ins Wasser gefallen, und schleuderte die Tropfen ab wie ein Hund.
»Ich glaube, es ändert sich gar nichts«, sagte er unsicher. »Es sind immer welche da, die die Schraube noch fester drehen.«
*
Der Tod Stalins, offiziell bekanntgegeben, erzeugte auch in Ust-Kamenogorsk eine spürbare Umstellung.
Dem weisen Rate Hauptmann Perwuchins folgend, begann der Kommandant, Oberst Denikinow, die Stalingegner abzusondern und in einer erst vor drei Monaten erbauten Steinbaracke zu sammeln, wo sie ein sauberes Bett bekamen und eine doppelte Verpflegungsmenge. Die Baracke war als ›Kulturzentrum Ust-Kamenogorsk‹ gedacht gewesen. Hier sollten Schulungen stattfinden und kommunistische Kameradschaftsabende. Oberst Denikinow winkte ab und sagte: »Erst den neuen Kurs abwarten!« So zogen siebenhundert Sträflinge in das schöne, große, neue Haus mit den breiten Fenstern und einer für Ust-Kamenogorsk geradezu märchenhaften Toilette mit Wasserspülung.
Allerdings tauchte bei der Absonderung der Stalingegner eine kleine Schwierigkeit auf, die ausgerechnet dem sehr still gewordenen Oberleutnant Kaljus passierte: Der Sträfling Boris Horn war nicht greifbar.
»Was hat er?« fragte Kaljus. Er sah
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