Der Himmel über Kasakstan
traf sie Olga Puronanskija auf der Lagergasse.
»Hast du noch etwas gehört?« fragte sie. Olga schüttelte den Kopf.
»Nein! Sie ist verschwunden, als sei sie nur ein Geist gewesen.«
Sie log vollendet, denn sie kam gerade von Jossif Kaledin, wo sie Erna-Svetlana beim Schrubben des Wohnzimmers antraf.
»Ich habe dir das Leben gerettet, weißt du das?« hatte sie gefragt. Und Svetlana hatte den Kopf geschüttelt und geantwortet:
»Ich werde es Ihnen ewig danken, gosposha.«
Boris hatte die Infektion und die hohe Dosis des Penicillins gerade überstanden und begann, die ersten Schritte im Zimmer zu gehen, schwankend, als sei er betrunken, angetan mit dem Schlafanzug, den ihm die Kolzwoskaja geschenkt hatte, als die Nachricht vom Todeskampf Stalins durchsickerte.
Wanda Kolzwoskaja hörte es von Hauptmann Perwuchin, der seit Wochen wie ein geiler Kater um sie herumstrich und sich bemühte, die Aufmerksamkeit der Ärztin durch Freundlichkeit oder großen Schneid zu erregen. So ließ er eines Abends eine Kolonne von 500 Sträflingen, ein wildes Reiterlied singend, am Fenster der Kolzwoskaja vorbeitraben, als sei es eine Kavalleriebrigade.
Als die Ärztin daraufhin das Fenster schloß und das Licht im Zimmer abdrehte, ließ er die 500 Gerippe auf dem Bauch über die Straße kriechen, durch das Lagertor, durch die Lagergassen bis vor die Baracken.
»Er hat einen Schlaganfall bekommen«, berichtete er. »Er ist halbseitig gelähmt!«
»Das kommt vor«, antwortete ihm die Kolzwoskaja. »Aber das ist noch keine Todesursache. Es gibt Männer, die laufen seit Jahren mit einem gelähmten Gehirn herum und krepieren nicht.«
In ihrem Zimmer aber dachte sie sehr über diese vage Meldung nach. Die gleichen Gedanken wie Tschetwergow und Konjew und Tausende anderer Sowjets quälten sie: Es wird vieles anders sein, und die ehemaligen Feinde werden ausschwärmen wie Hornissen und panischen Schrecken verbreiten. Es wird schwer sein, jemanden zu finden, der sagt: Ich stehe dir bei! Es wird nur Gegner geben und Speichellecker.
Am 5. März 1953 unterbrach der Moskauer Rundfunk seine Sendungen. Lähmende Stille lag über ganz Rußland. Das Unfaßbare war Wahrheit geworden: Josef Stalin war gestorben.
Es war, als habe in Rußland der Begriff der Unsterblichkeit einen Riß bekommen.
Ein Monument war gestürzt.
Atemlos lauschte die Welt nach Moskau, nach dem Kreml, hinter dessen dicken Mauern tiefstes Schweigen lag.
Nicht so schweigsam war Stephan Tschetwergow, der eine halbe Stunde nach dem festgestellten Tode Stalins bereits die interne Telefonnachricht besaß und dazu die Meldung: Nachfolger wird Malenkow sein. Aber dicht auf dem Fuße folgt Chruschtschow. Genossen, orientiert euch auf Chruschtschow!
In Judomskoje rollte die erste Aktion an. Noch war das amtliche Bulletin aus Moskau nicht veröffentlicht, als die erste Tat des ›Neuen Kurses‹ von dem fleißigen Ilja Sergejewitsch Konjew ausging. Er rückte mit vier starken Männern ab zur Datscha und warf den verblüfften und sehr konsternierten Tagaj aus dem Bett.
»Sachen packen, du Stalin-Hinternlecker!« schrie Konjew. Es tat ihm in der Seele gut, denn Tagaj hatte noch immer nicht das Einzugsfest gegeben, war geizig, bot nie einen Wodka an, was sogar Borkin getan hatte, und benahm sich ganz wie ein Bourgeois … hochmütig, verschlossen und sich absondernd von der proletarischen Klasse. »Deine Zeit ist um!« brüllte Konjew genußvoll.
Piotr Alexandrowitsch Tagaj setzte sich im Bett hoch, während seine Frau Darja die Decke bis zum Kinn zog, damit der wilde Konjew nicht ihren Busen sehen konnte. Dafür guckten unten ihre Füße aus der Decke heraus, und Ilja Sergejewitsch stellte fest, daß Darja auf der linken kleinen Zehe ein gewaltiges Hühnerauge hatte.
»Was fällt Ihnen ein?« schnaubte der Komponist Tagaj. »Sind Sie schon am frühen Morgen besoffen?!«
Über Konjews bestimmt nicht schönes Gesicht zuckte es konvulsivisch. Daß es ein Mann wagte, ihn besoffen zu nennen, der noch nie einen Wodka ausgegeben hatte, kränkte ihn mehr als alles andere.
»Raus!« brüllte er. Er faßte die Decke Tagajs und seiner Darja und zog sie weg. »Sachen packen und weg von der Datscha! Geht zurück, woher ihr gekommen seid! In einer Stunde marschiert ihr ab!«
»Ich werde mich sofort in Moskau beschweren!« schrie Tagaj. Jetzt kam die große Minute des Ilja Sergejewitsch. Er baute sich vor dem rot vor Wut zitternden Komponisten auf, spuckte auf den Boden und sagte mit
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