Der Himmel über Kasakstan
Horn. Und es ist schwül wie vor einem großen Gewitter.«
»Kommt die Welt denn nie zur Ruhe?!« schrie Boris. »Fünf Jahre habe ich aufgebaut, fünf Jahre lang habe ich geschuftet und aus einer verfallenen Datscha ein Mustergut gemacht … und jetzt will man mich wieder wegjagen, nur weil ich ein Deutscher bin?! Wo ist hier Gerechtigkeit?! Sagen Sie es mir, Tschetwergow?!«
»Wie kann ich etwas dazu sagen? Moskau befiehlt …«
»Das ist eure einzige Ausrede: Befehl aus Moskau.«
»Etwas, was keine Widerrede duldet. Sie wissen es doch, Genosse.«
»Ich weiß nur, daß hier eine neue, ganz große Schuftigkeit vorbereitet wird!«
Das Lächeln auf den Runzeln Tschetwergows wurde eisig.
»Sie beleidigen den Staat, Genosse Horn!«
»Ich sage die Wahrheit!« schrie Boris.
»Das dürfte das gleiche sein.« Der Sarkasmus Tschetwergows war drohend. »Der neue Kurs sieht vor, daß alle Deutschen ›freiwillig‹ nach Deutschland zurückkommen sollen. Wir wollen dem Westen beweisen, daß wir großzügig sind und es nicht nötig haben, zum Aufbau unseres Landes fremde Kräfte zu gebrauchen. Und schon gar nicht mit Gewalt oder Zwang. Deshalb siedeln wir euch aus, euch Deutsche.«
»Aussiedeln?« Boris ballte die Fäuste. »Ich soll die Datscha verlassen?!«
»Sie haben es ja selbst beantragt.«
»Das ist eine Lüge!« brüllte Boris.
»Moskau lügt nicht«, sagte Tschetwergow hart.
»Ich weigere mich!« Boris legte die geballten Fäuste auf den Tisch. »Ich verlange eine staatliche Untersuchungs-Kommission, die mir bestätigt, daß ich meine Arbeit nicht getan habe und deshalb Rußland verlassen muß. Man soll mir ins Gesicht sagen, daß ich ein Faulenzer bin und eine Belastung des Jahresplanes!«
Tschetwergow strich sich über seinen hängenden Schnurrbart. Unangenehm, dieser Boris. Er kam mit Forderungen, die bestimmt Erfolg versprachen.
»Warum sträuben Sie sich so, Genosse Boris?« sagte er mild. »Denken Sie einmal! Denken, mein Lieber! Sie sind Deutscher … wollen Sie es leugnen? Ihre Frau ist eine Deutsche – wer kann es ändern? Und Rußland wird immer ein unruhiges Land sein. Nie werden Sie und Ihre Familie in Ruhe leben können, man wird Sie immer stoßen, verfolgen, streicheln, schlagen, loben und verdammen … je nachdem, wie der Wind aus Moskau weht. Und Sie wissen, in Rußland drehen sich die Winde wie ein Karussell. Wollen Sie ein ganzes Leben lang gejagt werden? Wollen Sie nie zur Ruhe kommen?! Und denken Sie an Borkin – man wird ihn aus der Vergessenheit holen, um Ihnen schaden zu können. Man wird immer etwas finden, an dem Sie und Ihre Familie zerbrechen! Immer! Rußland ist für Sie wie ein Wolf, der Sie so lange umkreist, bis er Sie fressen kann.«
Entsetzt, innerlich völlig zerrissen, fuhr Boris nach Judomskoje zurück. Er kam spät am Abend auf der Datscha an. Svetlana schlief schon … er ging in das Schlafzimmer und sah sie im Bett liegen, die langen, goldenen Haare aufgelöst, als liege sie auf einem aus Goldfäden gewirkten Kissen. Neben ihr schaute ein kleiner, dunkler Kopf über die Decke, mit zusammengekniffenen Äuglein und einem geballten Fäustchen, das neben dem Ohr lag.
Mit zitternden Lippen stand Boris in der Dunkelheit an der Tür und sah auf das mit Mondlicht schwach erleuchtete Bild seligen Schlafes.
»Sie werden nie Ruhe haben«, hörte er die helle Asiatenstimme Tschetwergows. »Sie und Ihre Familie werden daran zerbrechen …«
Boris wischte sich über die Augen. Als er die Hand zurückzog, war sie feucht. Leise verließ er wieder das Schlafzimmer und ging hinüber in das Arbeitszimmer, setzte sich – wie es Borkin oft getan hatte – an die großen Fenster und starrte hinaus in die mondhelle Nacht. Wolken schwammen über die blaßgelbe Scheibe, wie Schleier, die über einen unendlichen See treiben. Wie unzählige betende Finger ragten die Baumspitzen der Wälder von Undutowa schwarz in den Himmel.
Er saß am Fenster und dachte an alles, was gewesen war und was vielleicht kommen könnte. Und als er alles noch einmal in Gedanken erlitt, war es für ihn wie ein Wunder, daß er noch lebte.
Als der Morgen dämmerte, unterschrieb Boris den mitgebrachten Schein, in dem er sich verpflichtete, im Herbst an der Aussiedlung teilzunehmen.
Erwünschter Ort in Westdeutschland, stand da. Er machte dahinter ein Fragezeichen.
Verwandte in Westdeutschland? – Nein.
Wo wollen Sie, falls keine Verwandten vorhanden, in Zukunft leben?
Er las die Frage noch einmal. Dann
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