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Der hinkende Rhythmus

Der hinkende Rhythmus

Titel: Der hinkende Rhythmus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gaye Boralıoğlu
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nicht.
    »Im Ernst?«, fragte er.
    »Im Ernst«, antwortete Güldane lässig.
    Endlich würden sie wieder ein gemeinsames Geheimnis haben! Freudig erregt von diesem Gedanken sammelte Yunus flink seine Würmer auf und pferchte sie in die Flasche hinein. »Ich geb den Leuten Bescheid«, sagte er, während er bereits mit dem Tamburin unter dem Arm durch die Tür flitzte.
    Güldane schaute Yunus hinterher, über ihn lächelnd, aber auch ein wenig stolz auf sich selbst.

    An jenem Abend wirkte Yunus beim Abendessen so seltsam, dass Güldane befürchtete, er könnte etwas ausplaudern. Mal stieß er ein schallendes Gelächter aus, dann schrie und brüllte er, riss die blödsinnigsten Witze oder sang mit lauter Stimme Lieder, die noch kein Mensch gehört hatte.
    »Ist ja gut, halt endlich mal den Mund«, herrschte ihn schließlich Cevdet an. Als Yunus nicht darauf reagierte, packte er ihn am Ohr und sagte: »Hör mal, was hast du denn?«
    Güldane sprang von ihrem Stuhl auf und konnte Yunus nur mit Mühe ihrem Vater entreißen. Sie griff seinen Arm und stieß ihn hinaus. Dabei drückte sie so fest zu, dass es ihrem Bruder wehtat, und flüsterte ihm ins Ohr: »Mach keinen Blödsinn, hast du Pillen geschluckt, bist du bekifft, los, geh, wasch dir dein Gesicht, sonst gibt es überhaupt keine Vorstellung mehr!«
    Yunus bekam tatsächlich Angst vor der Strenge seiner Schwester. Er verstummte und setzte sich in den Garten. Güldane kehrte indes zurück an den Tisch und goss in Cevdets und Safiyes Gläser den wer weiß wievielten Rakı ein. In den Köpfen der beiden herrschte bereits dichter Nebel. Safiye hatte einen hartnäckigen Schluckauf und Cevdet lallte nur noch. Es dauerte nicht lange, und sie fielen wie zwei kleine Elefanten auf ihr Bett und ein Geschnarche erhob sich im Haus. Güldane sah auf die Uhr; es war schon nach zwölf. Sie eilte auf leisen Sohlen in ihr Zimmer und zog sich um. Sie wählte ihr neues schwarzes Unterhemd, die schwarze Unterhose und ihr rotes Kleid. Sie öffnete ihre Haare, lüftete sie und band sich ihr neues rotes Kopftuch um. Da war sie wieder, die süße Aufregung, ihren Körper nach so langer Zeit endlich wiederzuentdecken. Güldane lächelte sich im Spiegel zu. Obwohl sie wusste, dass nur sie allein es riechen würde, trug sie das Calvin-Klein-Imitat auf, gekauft in Beyoğlu in einem Laden, der Parfüm in Nachfüllflaschen anbot. Sie drehte sich einmal um sich herum, spürte dem Duft ihres Körpers nach und merkte gar nicht, wie die Zeit verging, bis Yunus auf einmal neben ihr auftauchte.
    »Die Leute sind schon längst da. Sie warten seit einer halben Stunde. Fang endlich an, sonst machen die mir die Hölle heiß.«
    »Ist ja gut. Warte draußen«, sagte Güldane und schickte Yunus fort.
    Dann ging sie ins Bad. Bevor sie die Kerze, die dort schon aufgestellt war, anzündete, schloss sie die Augen und erfand eine ganz neue Melodie im Kopf; eine betäubende Melodie, die einer einsamen und traurigen Klarinette entströmte.
    Kurz danach, im Schein der Kerze und in Begleitung ihrer noch nie gehörten Komposition begann sie, die Augen halboffen und nur auf ihren eigenen Schatten gerichtet, sich langsam auszuziehen. Sie streifte den oberen Teil ihres Kleids hinunter und band ihr Kopftuch ab. Ihre schönen langen Haare fielen in Wellen auf ihre Schultern. Dann glitt ihr Rock auf den Boden. Bei einem der aufregendsten Takte zog sie ihr neues schwarzes Unterhemd aus. Wie immer war ihr Rücken zum Fenster, zu ihren Zuschauern gekehrt. Sie ließ zuerst die Träger ihres BHs fallen, löste dann die Haken und zog ihn aus. Bevor sie die Kerze auspustete, verspürte sie den Wunsch, für einen Moment Blickkontakt mit ihren Zuschauern zu haben. Güldane drehte sich um, begegnete im Licht der Straßenlaterne Augen, die vor Erregung und Neugier wie Glühwürmchen leuchteten. Und in diesem Augenblick, genau in diesem Augenblick, zog sich ihr Magen mit einem unerhörten Schmerz zusammen, alle Adern ihres Körpers pumpten nicht mehr Blut in ihr Hirn, sondern Feuer, und sie wäre fast in Ohnmacht gefallen …
    In der Mitte der Zuschauer, umrandet von dem abgenutzten Fensterrahmen, stand Halil und sah sie an.

Istanbul ein Riesenkessel
    »Guten Morgen, mein Sohn.«
    »Zieh die Vorhänge nicht auf.«
    »Aber das geht doch nicht, mein Sohn, wenn es so stockdunkel ist, kannst du natürlich nicht wach werden. Ich werde hier ein wenig lüften.«
    »Mach das Fenster nicht auf, ich friere.«
    »Du frierst nicht. Es ist warm.

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