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Der hinkende Rhythmus

Der hinkende Rhythmus

Titel: Der hinkende Rhythmus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gaye Boralıoğlu
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im Spiegel so genossen hatte, Ballons, aus denen die Luft gewichen war. An verschiedenen Stellen seines Körpers waren blaue Flecken und verkrustete Wunden. Er hatte nur noch eine Niere. Er konnte immer noch nicht sehen und sein Kopf war ein Trümmerhaufen. Es gab niemanden, der ihn pflegen könnte, ihm helfen, ihn heilen. Er war allein, mutterseelenallein. Hatte er einen Grund zu hoffen? Ein paar ferne Verwandte, die er seit Jahren nicht gesehen hatte, einige bruchstückhafte Freundschaften, auf die man vielleicht zählen konnte, vielleicht aber auch nicht … Bitte schön, das war das Erbe, das ihm zugefallen war! Lohnte es sich überhaupt, dafür zu leben? Lohnte es sich, sich dafür zum Affen zu machen?
    »Warum«, fragte er sich, »warum ich?«
    Ihm war eigentlich klar, dass diese Frage nicht zum Beantworten bestimmt war, sondern der letzte Notanker, den jemand, der im Meer der Verzweiflung schwimmt, an Land wirft, bevor er auf dem Grund aufschlägt. Halil hielt sich an dieser Frage fest.
    Wenn er noch am Leben war, musste man das einer göttlichen Gerechtigkeit zuschreiben; jedoch einer, die noch nicht in Erfüllung gegangen war.
    »Warum? Warum?«
    Diese Frage belebte ein wenig seinen Geist. Aber auch in seinem Körper nahm er eine Regung wahr, wie er sie schon lange nicht mehr gespürt hatte. Er bekam Hunger.
    Halil zwang sich, aufzustehen. Eine Weile horchte er an der Tür, und als er sicher war, dass sich niemand im Treppenhaus befand, machte er auf. Mit den Händen tastend versuchte er herauszufinden, ob die Päckchen, die Müge am Vortag hinterlassen hatte, noch dort lagen. Er fand sie, nahm sie schnell herein und schloss die Tür.
    Als er auf den Tisch zuging, stieß er mit dem Fuß so heftig gegen einen Stuhl, dass er vor Schmerzen am ganzen Körper verkrampfte. Aber er fasste sich wieder und legte die Pakete auf den Tisch. Seine Hände zitterten vor Hunger, während er den Inhalt durchstöberte. Er fand einen Apfel, packte ihn, biss gierig hinein und fing mit großem Appetit an zu kauen.

    Die Tage vergingen wie im Flug und Halil erholte sich viel schneller, als er vermutet hatte. Jetzt konnte er, wenn auch verschwommen, sogar sehen und fügte wenigstens sich selbst und seiner Umgebung keinen Schaden mehr zu, indem er gegen das Mobiliar prallte. Die Krusten auf seinen Wunden fielen allmählich ab, rosafarbene, frische Haut kam darunter zum Vorschein. Auf die Toilette zu gehen machte ihm keine Schwierigkeiten mehr, seine Rückenschmerzen waren weg. Er ernährte sich gut. Er rief im Lebensmittelgeschäft gegenüber an, der Lehrling des Ladens brachte ihm, was er brauchte, und manchmal bereitete sich Halil stundenlang eine Mahlzeit zu und aß sie mit großem Appetit. Er machte regelmäßig Übungen und sein Körper kam schnell in Form.
    Die Frage, die ihn beschäftigte, seitdem er wieder zu sich gekommen war, nämlich wer oder was für sein Unglück verantwortlich war, hatte er für eine gewisse Zeit an den Nagel gehängt. Gegenüber dieser Frage, auf die er keine Antwort fand, fühlte er sich schwach und hilflos. Er musste sich jetzt darauf konzentrieren, gesund zu werden. Sein Geist musste rein, seine Seele heiter sein und er musste jetzt alles tun, was zu tun war, damit er seinen früheren Zustand erreichen konnte. Später, wenn die Zeit gekommen war, würde er diese Frage wieder vom Nagel abhängen und die Antwort finden.
    Es gab auch eine weitere Frage, die in seinem Kopf schwirrte, seitdem er aus dem Krankenhaus entlassen worden war. Sie lautete »Müge« und war sicherlich auch zu beantworten.
    Halil überlegte, wann sie wohl ihren freien Tag hatte. Dienstag. Es war höchstwahrscheinlich der Dienstag. Er stellte sich vor den Spiegel und betrachtete einen Robinson Crusoe, der ihn anstarrte. Er rief im Lebensmittelgeschäft an. Wie immer bestellte er Brot, Eier, zwei Schachteln Zigaretten, Cola, eine Thunfischkonserve und dieses Mal, abweichend von seiner sonstigen Einkaufsliste, auch ein Rasiermesser.

    Halil wartete im verabredeten Restaurant auf Müge und bereute es, sie angerufen zu haben. Jetzt würden sie sich nicht mehr als Patient und Ärztin begegnen, sondern als Mann und Frau, und das verdarb ihm gehörig die Laune. Müge hatte Medizin studiert, Halil mit Ach und Krach die Oberschule beendet. Müge war Ärztin, Halil Fahrer. Wahrscheinlich war Müge eine schöne Frau. Halil war, na gut, früher vielleicht ein Mann gewesen, der Frauen gefallen könnte, aber jetzt war er mit seinen Augen, die

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