Der hinkende Rhythmus
allenfalls wie durch eine Wolke hindurch sehen konnten, seiner einzigen Niere und den Dutzenden von Narben an seinem Körper alles andere als attraktiv, das wusste er. Dieses Treffen war doch völlig sinnlos!
Halil erwog aufzustehen und zu verschwinden, bevor Müge eintraf. Sie hatten sich in einem Restaurant in Beyoğlu, in der schmalen Gasse Asmalımescit, verabredet. Oder eher: es war ihr Wunsch gewesen. »Wir können uns ja sehen, wenn du willst«, hatte Halil gestammelt und Müge hatte schallend gelacht und gemeint, sie sei schon lange nicht mehr in einer Meyhane gewesen, obwohl sie doch so gerne in diesen Schankwirtschaften in Beyoğlu saß, und hatte dann diese hier genannt. Wenn ich jetzt aufstehe und abhaue, wird es in diesem Gewusel niemandem auffallen, überlegte Halil. Und Müge würde ihn nicht finden, wenn sie eintraf. Später könnte er sie dann anrufen und sich entschuldigen, er könnte sagen, er habe sich nicht fit genug gefühlt, um nach Beyoğlu zu kommen, er würde sich ein andermal bei ihr melden.
Seine Hände schwitzten. Könnte man sich eine ekelhaftere Kreatur auf dieser Erde vorstellen als einen Mann mit schwitzenden Händen? Er musste sich möglichst schnell aus dem Staub machen, besser gleich aufstehen und verschwinden … doch da hörte er eine Stimme:
»Hallo!«
Nun wurde Halil klar, dass er zu lange gewartet hatte. Er stand auf, um Müge zu begrüßen, da kippte sein Stuhl um, doch er tat so, als wäre nichts geschehen. Müge gab ihm die Hand. Er aber konnte seine nicht ausstrecken, mit diesen nassen Händen konnte er sie nicht anfassen.
»Setz dich am besten hierhin«, sagte er stattdessen und hob seinen Stuhl auf. Damit hatte er sowohl die Stuhlkatastrophe als auch die Bedrängnis des Händeschüttelns auf einen Schlag aus dem Weg geräumt. Müge ließ sich nichts anmerken und nahm den Stuhl, der ihr angeboten wurde. Halil setzte sich ihr gegenüber.
Die Sitzordnung in der Meyhane, die fast an eine Mensa erinnerte, Dutzende Plakate, Gemälde, Fotos an den Wänden, von namhaften Gästen geschriebene Briefe, eine ganze Herde unterhaltungsfreudiger Menschen, die den riesigen Raum füllten, und das eilige Gerenne der Kellner erzeugten ein solches Durcheinander, dass ein privates Gespräch zwischen Halil und Müge ohnehin unmöglich war. Sie waren in diesem Gasthaus eine gewöhnliche Zeile in einem anonymen Gassenhauer, kein erlesenes Gedicht, vertont für ein Liebeslied.
Dieser Gedanke erleichterte Halil.
Müge setzte das verschmitzte Lächeln eines kleinen Mädchens auf und sagte: »Na, sag mal, wie findest du mich? Bin ich wirklich so, wie du’s dir vorgestellt hast?«
Halil sah Müge zum ersten Mal an. Ehrlich gesagt, sie war anders, als er gedacht hatte. Obwohl er auch nicht wusste, wie er sie sich vorgestellt hatte. Schöner vielleicht, oder reifer? Aber auf jeden Fall anders.
Halil überlegte, wie er am besten auf Müges Frage antworten sollte, da trat zum Glück der Kellner an den Tisch. Sie bestellten Traubenrakı, wählten verschiedene Vorspeisen, die ihnen auf einem Tablett zur Auswahl angeboten wurden, und wollten Pelamide für den Hauptgang.
Während Halil die Gläser mit Eis füllte, sagte Müge:
»Ich habe gedacht, du würdest mich nie anrufen.«
»Ich hab dich aber angerufen«, erwiderte Halil.
»Nein, ich meine jetzt nicht wegen des Attests, sondern damit wir uns unterhalten«, sagte Müge und nahm einen Schluck von ihrem Rakı.
Halil antwortete nicht. Müge war selbstsicher und entspannt. Vielleicht war das für sie ein Abend unter vielen. Und Halil ein Mann unter vielen Männern. Denn nur so konnte eine Frau derart entspannt sein. Halil bereute diese Verabredung zutiefst. Wenn es ihm gelingen sollte, den Abend unfallfrei zu überstehen, würde er Müge nie wieder anrufen. Nie wieder!
»Du nimmst regelmäßig deine Medikamente ein, nicht wahr?«
»Ja, ich nehme sie ein.«
»Gehst du oft raus? So zum Spazierengehen oder so?«
Halil schwieg. Den Rakı, den er gerade zu sich genommen hatte, behielt er eine Weile im Mund, bevor er ihn herunterschluckte. Müge lächelte neckisch:
»Oder ist es etwa das erste Mal, dass du rauskommst?«
»Nein, nicht«, beeilte sich Halil. Er hätte die Folgen einer ehrlichen Antwort nicht ertragen.
»Du siehst gut aus«, sagte Müge.
»Mir geht es gut«, antwortete Halil in einem Ton, als meinte er: »Ja, es geht mir gut, na und?«
Müge wies mit dem Finger auf den Kopf:
»Und wie sieht es dort aus?«
Halil spürte
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