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Der hinkende Rhythmus

Der hinkende Rhythmus

Titel: Der hinkende Rhythmus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gaye Boralıoğlu
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unbeholfen erzählte und die auch wirklich nicht lustig waren, machten sie glücklich. An manchen Tagen sah sie ihn aufmerksamer an und bemerkte dunkle Schatten, die ihm dann und wann über das Gesicht huschten, hielt sie aber damals eher für Schatten eines Lebens im Gefängnis. Und auf jeden Fall fühlte Güldane sich etwas erleichtert, wenn der Besuch vorbei und sie wieder draußen war.
    Nun war Cevdet zurück, das war schon mal eine gute Sache. Dieser üble Kerl, dieser Teufel von einem Halil war am Leben, wahrscheinlich war das auch eine gute Sache. Unter ihrer Decke liegend sagte sich Güldane, sie brauche keine Angst zu haben. Etwas Schlimmes würde nicht passieren. Ihr würde gar nichts Schlimmes passieren. Alles würde genauso weitergehen wie bisher. Ihre Mutter, ihr Vater, ihr Bruder würden tanzend und die Hüften kreisend weiter ihr Leben führen. Alles war in Ordnung. Sie zog die Decke über den Kopf. Von nebenan hörte sie jetzt die tiefen, aber schnellen Atemzüge ihres Vaters, den vor Lust stöhnenden Atem ihrer Mutter und das rhythmische Quietschen des Bettes. Unter der Decke streifte Güldane ihr Nachthemd langsam ab. Dann zog sie ihr Unterhemd mit festoniertem Saum aus. Schließlich schob sie ihre Unterhose mit roten Pünktchen hinunter. Jetzt war sie ganz nackt. Sie zog die Knie zum Bauch und schob die Hand zwischen ihre Beine. Sich anzufassen gab ihr Entspannung. So schlief sie ein …

    Irgendwann war die Aufregung verflogen, die Cevdets Freilassung angefacht hatte, und da erst begannen die Bewohner des Hauses allmählich, Veränderungen an ihm wahrzunehmen. Jenen Mann, der einst große Töne spuckte, dessen Stimme tönte und dessen Gelächter schallte, dessen Schritte den Boden bumm bumm erbeben ließen, hatte Cevdet im Gefängnis zurückgelassen. Derjenige, der herausgekommen war, war schweigsam, war still. Man verstand kaum, was er sagte, man merkte es nicht, wenn er vorbeilief. Zigaretten rauchte er Kette, hielt sich aber fern von der Tüte. Wurde es Abend, goss er sich wie üblich seinen Rakı ein, erzählte aber, und das war unüblich, weder Geschichten, noch schrie und polterte er. Nach ein paar Schlucken kam nur ein Seufzer und: »Gott bewahre mich vor diesem Loch!«
    Güldane sah ihren Vater zum ersten Mal so still, so zerknirscht. Alle im Haus dachten zunächst, es würde sich um eine vorübergehende Verwirrung handeln, um eine kurze Eingewöhnungsphase von wenigen Tagen, doch ein Tag folgte dem anderen und Cevdet veränderte sich nicht.
    Am Anfang war Safiye äußerst zufrieden mit seinem stillen, schweigsamen, zahmen Betragen. Dann aber begann sie, sich Sorgen zu machen. Sie näherte sich ihm einige Male und fragte: »Was ist denn los?«, doch Cevdet war immer kurz angebunden und wimmelte sie ab. Daraufhin rieb sie sich mit Düften ein, machte oben zwei, drei und unten vier, fünf Knöpfe ihres Kleids auf, das ihre Brüste ohnehin gerade noch beieinanderhalten konnte, und versuchte, Cevdets Blut in Wallung zu bringen. Früher wären sie nach wenigen Minuten übereinander hergefallen. Aber Cevdet würdigte sie keines Blickes und Safiye platzte der Kragen. Jawohl, ihr platzte der Kragen, und so schmetterte sie den erstbesten Gegenstand, der ihr in die Hände fiel – zum Glück war es ein Holzlöffel – gegen die Wand. Der Löffel sprang von einer Wand zur anderen und fiel auf den Boden. Als er dort landete, sprach sie: »Jetzt pass mal auf! Ein Mann mit leerem Magen hat keine Depressionen, er darf einfach keine haben. Das ist nicht dein erstes Mal im Knast und es wird auch nicht dein letztes Mal sein. Jetzt reicht’s, dass du wie ein Faultier vor dich hingrübelst. Reiß dich zusammen, sonst zeig ich dir, wie man sich zusammenreißt!« Cevdet gab keine Antwort. Er stieß einen tiefen Seufzer aus und richtete seine Augen wieder in die Unendlichkeit.
    Eines Morgens standen sie auf und sahen Cevdet in die Stellenanzeigen der Zeitung vertieft. Sie trauten ihren Augen nicht. Was könnte er denn arbeiten, da es ja bekanntlich keine Anzeigen gab, die »Dealer gesucht« oder »Froschsammler gesucht« lauteten! Sie sahen sich gleichzeitig, wie verabredet, neugierig und besorgt an, ließen sich aber nichts anmerken. Cevdet kreiste mit einem roten Kugelschreiber, den er ganz weit unten festhielt, einige Anzeigen ein, dann faltete er die Zeitung zusammen, klemmte sie unter den Arm und ging hinaus. »Möge Gott ein gutes Ende bescheren!«, murmelte Safiye, als er schon fort war.

    In den

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