Der hinkende Rhythmus
seine Folgen hatten ihn von anderen Menschen gänzlich entfernt. Er war sich der Defekte seines Körpers, seiner Seele und seines Gedächtnisses bewusst, und jede Begegnung, besonders mit Bekannten, die er von früher kannte, war eine potentielle Gefahr für ihn, weil jedes Wiedersehen diese Defekte bloßstellen könnte. Er musste wieder vollständig gesund werden … musste seine früheren, kräftigen Muskeln zurückgewinnen, seine Schmerzen mussten gänzlich verschwinden, sein Gedächtnis musste sich restlos, ohne einen einzigen verschwommenen Punkt, wieder herstellen. Erst wenn das alles geschehen war … erst dann …
Nach vielen langen Tagen zwischen Wohnung, Fitnesszentrum und Lebensmittelgeschäft, in einem Moment, als er sich besser fühlte, beschloss Halil, seine alte Arbeitsstätte aufzusuchen. Er konnte sich an seinen Chef erinnern. Er war ein guter Mensch. Er hatte die Krankenhauskosten bezahlt. Halil war zwar später mitgeteilt worden, er sei entlassen, aber vielleicht könnte er den Chef umstimmen, wenn er von Angesicht zu Angesicht mit ihm sprechen könnte. Er brauchte Geld. Seine bescheidenen Ersparnisse gingen langsam zur Neige. Zudem würde er vielleicht in diesem Gespräch einige Einzelheiten über den Unfall erfahren.
Halil fand die ganze Nacht keinen Schlaf. Wie würde wohl das Treffen verlaufen? Was würde der Chef ihn fragen? Wie würde er antworten? Und was, wenn ihn der Chef schlecht behandelte? Wenn er ihn fortjagte? Wenn er ihn beschimpfte? Halil verfasste tausende Dialoge im Kopf. Er versuchte, die beeindruckendsten Sätze zu finden, probierte in seiner Phantasie eine Kleidung nach der anderen an, um so gut wie möglich auszusehen. So drehte er sich von links nach rechts und von rechts nach links, bis der Morgen graute. Dann schlief er schließlich ein.
Der Schlaf, wenn auch nur kurz, tat ihm gut. Als er erwachte, fühlte er sich leichter, entschlossener. Sorgfältig rasierte er sich. Er zog seinen schwarzen Anzug an und band sich eine Krawatte um. Auch seine schwarze Brille nahm er mit. Vor dem Spiegel blieb er mit einigem Abstand stehen und betrachtete sich selbst. Was er sah, gefiel ihm. Selbst durch den Anzug waren seine breiten Schultern und kräftigen Muskeln zu erahnen. Die Narben im Gesicht waren fast vollständig verschwunden, nur eine kaum sichtbare Spur war unter seinem Kinn geblieben. Er strich über diese Linie, als wollte er sie wegwischen. Zuletzt trug er sein Kölnisch Wasser auf und ging hinaus.
Während seiner ganzen Schulzeit hatte Halil kein einziges Mal das Glück gehabt, dass in den Prüfungen die Fragen kamen, auf die er gut vorbereitet war. Und auch jetzt landeten sämtliche Dialoge, die er die ganze Nacht verfasst, und alle Szenen, die er inszeniert hatte, im Papierkorb. Es geschah etwas, womit er gar nicht gerechnet hatte: Der Chef wollte ihn nicht einmal empfangen!
Halil blieb vor der Textilfabrik in Ikitelli am Rande der Autobahn ratlos zurück. Er hatte seine ganze Kraft gesammelt und der Sekretärin mit entschiedenstem Tonfall gesagt, er wolle mit Murat Bey sprechen. Die Sekretärin hatte Halil erkannt, jedoch nichts anderes als ein distanziertes »Glückwunsch, dass Sie es überstanden haben!« über die Lippen gebracht, ihn dann gebeten, draußen zu warten, um ihm später knapp mitzuteilen: »Murat Bey hat keine Zeit.« Das hatte Halils Blut so sehr in Wallung gebracht, dass er sich vorstellte, die Frau am Arm zu zerren, gegen die Wand zu schleudern, die Tür zum Büro des Chefs peng! aufzustoßen, mit der Faust auf den Tisch zu hämmern und den Chef am Kragen zu packen, doch eine innere Stimme hatte ihn gebremst. Als er dann merkte, dass er auf einmal den Tränen nahe war – und zwar vor den Augen dieser Frau –, hatte er sich rasch hinausgerettet.
Nun stand er im Staubwirbel der Transeuropäischen Autobahn wie ein verzweifeltes Kind, dem das Brot aus der Hand gerissen wurde, herum. Diese Sekretärin mit dem rosa Lippenstift, diesen niederträchtigen Murat Bey und alle, die in der Fabrik arbeiteten, wollte er umbringen, wollte alle Scheiben einzeln zerschlagen, ja sogar die ganze Fabrik in die Luft sprengen. Aber stattdessen stand er da wie ein Idiot. Weder konnte er sich entfernen noch irgendetwas anderes unternehmen.
Da geschah es, dass sein Blick an einem schwarzen Jeep hängenblieb. Diesen Jeep kannte er … Das war der Jeep, den er gefahren hatte. Der gleiche, mit dem er den Unfall hatte. Also das Gefährt von Murat Bey. Ein anderer Fahrer,
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