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Der hinkende Rhythmus

Der hinkende Rhythmus

Titel: Der hinkende Rhythmus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gaye Boralıoğlu
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der Halil sehr ähnlich sah, saß nun am Steuer. Dieser fuhr vor und blieb knapp vor dem Eingang stehen. Etwas später erschien Murat Bey in der Tür. Halil stand da wie festgenagelt. Der Fahrer stieg aus und öffnete für seinen Chef die Hintertür des Wagens. Kurz vor dem Einsteigen wandte Murat Bey den Kopf und sah Halil, der unter einem Strommast reglos verharrte. Halil dachte, der Mann würde sich wieder umdrehen und einsteigen, aber er hatte sich geirrt. Murat Bey kam auf ihn zu.
    »Halil?«
    Halil nahm seine Brille ab. Undeutlich murmelte er: »Ich bin’s.«
    Murat Bey streckte die Hand aus.
    »Glückwunsch, dass du es überstanden hast!«
    »Danke«, sagte Halil. Alles, was er auswendig gelernt hatte, war verflogen, er hatte alles vergessen, was er sagen, was er fragen wollte.
    »Wie geht es dir jetzt? Du siehst aber gut aus!«, sagte Murat Bey.
    Halil schluckte, und es sah so aus, als würde er zustimmend nicken. Der Mann sprach ein undefinierbares »Gut, gut …« und wandte sich zum Jeep, da rief ihm Halil hinterher: »Murat Bey!«
    Der Chef drehte sich um. Jetzt war Halils Kopf gänzlich leer. Auf einmal hatten ihn alle Sätze, sämtliche Wörter, die er kannte, verlassen. Er hielt inne, schluckte und schließlich brachte er nur hervor:
    »Für … Arbeit …«
    Murat Bey lächelte. Er hob den Arm und zeigte auf den neuen Fahrer, der neben dem Wagen auf ihn wartete:
    »Wir haben den Kollegen hier engagiert. War Not am Mann. Nimm’s mir nicht übel«, sagte er. Sein Mund vollzog eine Muskelbewegung, die wie ein Lächeln aussah, dann stieg er in den Jeep und war fort. Das Vorstellungsgespräch, für das Halil die ganze Nacht geübt hatte, war beendet …
    Auf dem Heimweg fühlte er sich elend; wie ein auf der Straße vergessener Rassehund, wie ein dummer Fisch, dessen Vergangenheit nicht in seinem Gedächtnis festgehalten ist, wie eine ausweglose Schmeißfliege, die immer wieder umsonst versucht, hinauszukommen, weil sie nicht merkt, dass sie gegen die Scheibe fliegt!
    In dem Geschäft an der Kreuzung kaufte er eine große Flasche Rakı und ging nach Hause. Ohne das Zeug in ein Glas einzugießen, ohne es mit Wasser zu verdünnen, fing er an zu trinken. War das vielleicht bitter, verflixt nochmal! Doch bald gewöhnte sich seine Zunge an diese Bitterkeit, genauso, wie sich Halil auch an die Schmerzen in seinem Körper gewöhnt hatte.
    Rakı und Halil wurden zu Gefährten, zu Liebenden, zu sich gegenseitig Rettenden. Mit jedem Schluck wurde Halil nüchterner. Mit jedem Schluck wurde ihm leichter ums Herz, mit jedem Schluck lockerte sich der Würgegriff, der ihn einengte. Er bekam so viel Luft, dass er das ganze Zimmer und das ganze Haus, die Straße und das Krankenhaus, den Stadtteil seines Unfalls und ganz Istanbul, was heißt hier Istanbul, auch Rom und auch Paris und auch London, alle kaltschnäuzigen Städte der Welt und sogar die ganze Welt, ihren Tag, ihre Nacht, die Sterne und den Mond in sich einsog. Er wurde zum Herz des Universums. Und da, in diesem Moment, wurde ihm klar, dass Vergessen und Erinnern, Vergangenheit und Zukunft gar nichts zu bedeuten hatten und was für ein himmlisches Privileg es war, genau jetzt hier zu sein und diesen einen Augenblick ohne Schmerzen erleben zu können. Er dankte Gott dafür, dass er ihm dieses Privileg gewährte. Und heimlich bat er ihn auch um Vergebung, weil er das Glück, überlebt zu haben, erst jetzt ausgesprochen und sich erst jetzt dafür bedankt hatte.
    Allmählich begann ein Dunst, sämtliche Wörter in seinem Kopf wie in eine kuschelweiche Decke zu hüllen.
    Als er am nächsten Morgen aufwachte, war von dem Zauber des letzten Abends nichts mehr übrig. Wie ein nutzloses, kränkelndes Wrack ohne Gedächtnis, das ihm erlauben würde, sich unter Menschen zu mischen, lag er in seinem Bett. Lieber wäre er gar nicht aufgewacht und hätte keinen weiteren leidlichen Tag vor sich gehabt. Aber er war nun einmal wach. Was geschehen war, war geschehen; er war am Leben. Also, was tun?
    Halil verbrachte den ganzen Vormittag im Bett und wälzte sich in den von der Nacht vererbten Gerüchen von Rakı und Schlaf. Als es Mittag wurde, hatte er bereits einen Entschluss gefasst; er wollte zu seiner Tante. Er wollte mit ihr über seine Mutter, seinen Vater und die alten Zeiten sprechen. Vielleicht könnte er sich dadurch an mehr erinnern, könnte die Löcher in seiner Vergangenheit stopfen. Dieser Gedanke gab ihm Kraft, er stieg aus dem Bett und fing an, sich anzuziehen.

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