Der hinkende Rhythmus
Gerade, als er hinausgehen wollte, tauchte in ihm eine Frage auf und hielt ihn fest: Wohin wollte er denn?
Ja, wohin? Wo wohnte seine Tante? Und … wie hieß sie überhaupt? Nadire? Nein, anders. Nazire? Vielleicht auch Neyyire?
Halil ließ sich nicht besiegen. In sämtlichen Winkeln der Wohnung, allen Schubladen, Schränken, Hosentaschen, zwischen den Seiten der Bücher und Zeitschriften, in allen Kartons in der Küche, unter dem Bett und im Wäschekorb, in alten Koffern, überall suchte er, alles durchforstete er. Er suchte eine heiße Spur. Eine heiße Spur, die ihn zur Identität und Adresse seiner Tante führte. Ein Foto, ein Familienfoto vielleicht … Auf dem Halil mit abgebildet war. In diesem Moment erinnerte er sich an einen Brand. Ein Bild, auf dem zu sehen ist, wie alle Fotos verbrennen und zu Asche werden. Alte, verblasste Fotografien, die überallhin feine Funken streuen … Vielleicht ein Standbild aus einem Film oder eine Traumsequenz … Doch seine Krankheit erlaubte ihm nicht, weiterzugehen. Seine Tante musste nunmehr für ihn nur noch als Silhouette existieren, als die Silhouette einer weißhaarigen, blassen, mageren, ein wenig buckligen Frau, die, obwohl sie nicht sehr alt war, Schwierigkeiten beim Gehen hatte.
Es folgten weitere Tage der Leere, in der Halil hilflos schwamm, doch spürte er irgendwann Kraft in sich aufsteigen und beschloss, den Unfallort aufzusuchen. Müge hatte während seines Krankenhausaufenthalts die Polizeiberichte studiert und ihm mitgeteilt, dass der Unfall in Etiler auf der Baustelle eines Einkaufszentrums passiert war. Vielleicht würde sich dort sein Gedächtnis mit einem Mal beleben und er würde den Augenblick des Unfalls mitsamt seiner Ursache und seinen Folgen wie einen Filmstreifen vor sich ablaufen sehen. Er klammerte sich an diese Möglichkeit, in der er seine letzte Hoffnung sah. So verließ er das Haus und stieg in Mecidiyeköy in den Bus nach Etiler ein. Dieser war so überfüllt und die Luft war so dick, dass er sogar überlegte, auf halber Strecke wieder auszusteigen. Aber er hielt durch, bis er an der Haltestelle in Güvercinlik ankam.
Dort stieg Halil aus und lief die Straße hinauf. Es nieselte. Je mehr er sich dem Unfallort näherte, umso schneller schlug sein Herz. Sein Körper verkrampfte sich unwillkürlich, eine Ahnung von Übelkeit streifte seinen Magen. Umhüllt vom Gestank der Abgase lief er eine Weile, die ihm sehr lang vorkam. So lang, dass er allmählich glaubte, in die falsche Richtung zu laufen. Halil näherte sich einem Verkaufsstand am Straßenrand, unter dem Vorwand, Wasser kaufen zu wollen, bat um eine Flasche und fragte den Verkäufer, ob hier in der Gegend ein Einkaufszentrum gebaut werde.
»Siehst du diese Ampeln da drüben? Ja genau, also über die Ampel, erste links, dann wirst du es schon sehen.«
Halil bedankte sich und schlug die angegebene Richtung ein. Mit jedem weiteren Schritt wurde ihm der Atem enger, und proportional zu dem immer stärkeren Regen pochte sein Herz immer schneller. Er kam an der Ampel an, bog um die Ecke und sah die Baustelle, die an ein riesenhaftes Legospielzeug aus Eisen erinnerte.
Er blieb stehen und wartete. Er wartete darauf, dass mit ihm irgendetwas geschieht, dass er plötzlich ein Licht sieht, oder in eine Finsternis hinabfällt, dass sich dort ein Riss auftut und durch diesen Riss alle verschollenen Erinnerungen wieder in seinen Kopf hineinströmen wie durch einen Türspalt, durch den ein kräftiger Windstoß fegt … er wartete. Doch in seinem Gehirn entstand kein anderes Bild als das eines unfertigen Bauwerks, das sich vor ihm auftürmte.
Trotzdem wollte er die Hoffnung nicht verlieren. Auf der Suche nach einem Hinweis, einem winzigen Lichtblick lief er auf den Bau zu, der gen Himmel ragte. Er lief um ihn herum. Er machte sich nichts daraus, dass sich der Regen in einen Schauer verwandelt hatte, und blieb an manchen Stellen minutenlang stehen. Das Ergebnis war ein riesiges Nichts … nichts! Dieser Ort, dieses Viertel, diese Baustelle bedeuteten ihm rein gar nichts. Kein einziger Moment des Unfalls funkelte auf. Er war ein weiteres Mal besiegt!
Als sich die dunklen Wolken lichteten und eine strahlende Sonne auf sein Gesicht fiel, beschloss er, zurückzukehren. Der Regen hatte aufgehört. Vielleicht rührte sich deswegen nichts in ihm, weil der Bau inzwischen höher gewachsen und das Bild zum Zeitpunkt des Unfalls ohnehin zerstört war. Die Lücken in seinem Kopf wanderten allmählich auf
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