Der hinkende Rhythmus
plötzlich eine Hitze in sich aufkommen und lief rot an. Was sollte das jetzt! Müge bemerkte seine Anspannung.
»Also, ich meine dein Gedächtnis«, erklärte sie. »Gibt es Fortschritte?«
»So la la«, sagte Halil und nahm einen weiteren Schluck. »Ich kann mich jetzt besser erinnern an frühere Dinge. Häppchenweise. Aber der Unfall … null … Leere!«
»Vielleicht wirst du dich nie daran erinnern«, sagte Müge. »Solche Fälle gibt es.«
»Ich werde nicht zu diesen Fällen gehören«, entgegnete Halil zornig. Das Wort »Fälle« hatte er genauso betont wie Müge.
»Ist gut!«, sagte Müge und tat dabei so, als würde sie zurückstecken. Gleich darauf fügte sie hinzu: »Sind die Nähte ganz geheilt? Also über der Niere?«
Halil wurde dieses Gespräch über seine Makel langsam zu viel. »Ich habe dich nicht angerufen, um dir von meiner Gesundheit zu berichten!«, sagte er.
Müge stieß einen Riesenlacher aus. Einen, der sogar ein wenig zu groß und auch unnötig war. Sie ließ es sich zwar nicht anmerken, aber sie musste wohl auch nervös sein.
»Stimmt«, sagte sie, »wir haben uns getroffen, um uns zu unterhalten.«
Sie stießen an, nahmen einen großen Schluck. Beiden war jetzt ein wenig schwindlig.
Den Rest des Abends schwieg Halil, wenn man von einigen wenigen Sätzen absieht, und fand Zuflucht in der gleichgültigen Menschenmenge in der Meyhane. Müge erzählte, manchmal lachend, manchmal sich zu ihm beugend und dabei leicht seine Hand berührend, eine ganze Menge aus ihrem Leben. Was für ein Mädchen sie damals war, als sie noch klein war; wie sie in dem Augenblick, als sie erfuhr, sie habe die Aufnahmeprüfung für die Universität bestanden, die Saftflasche aus der Hand fallen ließ, die dann auch noch vom Balkon hinunterflog; und dann dieser Junge mit den blauen Augen, mit dem sie auf der Oberschule flirtete und dem sie später in einem Kino begegnete; und der Moment, als sie zum ersten Mal eine Leiche sah … das alles erzählte sie in einem fort. Halil hörte schweigend, mit einem Teil seiner Anwesenheit zu. Jedes Wort Müges vertiefte den Graben zwischen ihnen ein Stückchen weiter.
Wenn der Wirt gegen zwölf mit seinem berühmten Ausruf »Gut, die Herrschaften, schön war’s mit euch« nicht den Schlussstrich gezogen hätte, wäre Müge noch ewig sitzengeblieben. Während die Kellner die leeren Stühle umdrehten und auf die Tische stellten, standen Müge und Halil auf. Sie hatten eine große Flasche Rakı fast geleert und waren gut betrunken. Müge hielt sich an Halils Arm fest. Unmittelbar vor dem Lokal wartete ein Taxi.
»Wenn du möchtest, kann ich dir einen Kaffee machen«, flüsterte sie ihm ins Ohr.
Er hatte bereits die Hintertür des Wagens geöffnet. Müge stieg rasch ein. Sie rutschte auch gleich weiter, damit sich Halil neben sie setzen konnte. Er beugte sich zum Fenster:
»Ich gehe zu Fuß«, sagte er und fügte hinzu: »nach Hause.«
Er wollte keinen Augenkontakt und senkte den Blick. Deswegen sah er nicht, wie ihn die Ärztin zunächst verwundert und dann empört anschaute. Er trat einige Schritte zurück und wartete, bis das Taxi losfuhr. Dann lief er in die entgegengesetzte Richtung nach Tarlabaşı davon und verschwand in der Menschenmenge.
In den darauffolgenden Tagen gab sich Halil erneut große Mühe, um schnell zu Kräften zu kommen. Er schrieb sich in Mecidiyeköy in einem Fitnesszentrum in der Nähe seines Hauses ein. Es war kein ansehnlicher Ort. Die Luft war dick und feucht, die Duschen alt und sie funktionierten selten. Das Wasser lief entweder brühend heiß oder eiskalt. Ein Teil des Saals war mit altgedienten Sportgeräten wie Hanteln, Sandsäcken und Laufbändern bestückt, in dem anderen lagen Matten mit zerfransten Rändern herum, die nach Schweiß und Nässe rochen und auf denen fernöstliche Sportarten von Judo über Karate bis Taekwondo trainiert wurden. Doch trotz der ganzen Schäbigkeit, die dort herrschte, war Halil froh über diese Möglichkeit. Denn zum einen war der Besitzer ein alter Freund, er verlangte kein Geld von ihm, stellte nicht viele Fragen, und Halil konnte in Ruhe trainieren. Zum anderen war es sehr nah gelegen, er konnte, ohne sich unter Menschen mischen zu müssen, über leere Gassen in Sportkleidung kommen und gehen. Der Nebelvorhang vor seinen Augen lichtete sich von Tag zu Tag, Gegenstände und Menschen gewannen klarere Konturen.
Halil war nie ein sozialer, unterhaltsamer Zeitgenosse gewesen. Aber dieser Unfall und
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