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Der hinkende Rhythmus

Der hinkende Rhythmus

Titel: Der hinkende Rhythmus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gaye Boralıoğlu
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sein Herz zu. Er fühlte sich betrogen.
    Halil schlenderte ziellos die schlammige Straße entlang, als ihn auf einmal ein Anblick, der gleich weiter vorn erschien, erstarren ließ: ein Zigeunermädchen. Ein Zigeunermädchen, das Blumen verkaufte. Halil kannte dieses Mädchen. Er schloss die Augen und suchte in den Tiefen seines Gedächtnisses nach diesem rothaarigen Mädchen, dessen Augen Flammen spien. Er fand sie nicht. Als er die Augen wieder öffnete, war sie verschwunden. Halil sah nach rechts, nach links, er rannte los, bog in die Seitenstraßen. Sie war nicht da. Verschwunden samt Blumen zwischen den Autos. Hatte es das Mädchen überhaupt gegeben? Sie hatte ja keine einzige Spur hinterlassen. Blumen auf dem Boden etwa, oder Blütenblätter … eine Silhouette in der Ferne … nichts … es gab nichts, das auf sie hingedeutet hätte.
    Strömender Regen, der Regen hörte auf, die Sonne kam hervor, Wolken zogen auf, es regnete wieder, der Regen hörte wieder auf. Um sich von der Realität dieses Bildes zu überzeugen, das in die Mitte seines Gedächtnisses hineingefallen war, oder ihm einen Sinn zu verleihen, den es vielleicht früher einmal hatte, verbrachte Halil Stunden an jenem Ort. Diese Blumenverkäuferin war zu lebendig, zu detailreich, zu beeindruckend in seinem Kopf erschienen, als dass es sich um einen Tagtraum hätte handeln können. Halil könnte schwören, dass sie in jenem Moment tatsächlich da gewesen war.
    Auf dem Weg nach Hause und auch in den folgenden Tagen sah er immer wieder ihr Gesicht vor sich. Warum? Warum war dieses Bild so hartnäckig? Warum schlug Halils Herz schneller, wenn es ihm erschien? Wer war dieses Mädchen? Hatte sie etwas mit dem Unfall zu tun? Hatte sie etwas mit Halil zu tun?
    Er wollte auf all diese Fragen Antworten finden und brannte danach, das Geheimnis dieser seltsamen Situation zu lüften. Aber es gab nichts, was er dafür tun konnte.

    Einige Tage später, nachdem er sich ein Stückchen mehr erholt hatte, fing Halil an, Arbeit zu suchen. Er hatte nicht besonders viele Alternativen. Als Kind hatte er bei Schlossern oder Tischlern gearbeitet, aber dergleichen wollte er nicht mehr. Eigentlich behagte ihm schon der Gedanke nicht besonders, an einen Ort gebunden zu sein. Er stellte sich vor, dass die Wunden in seinem Gedächtnis schneller heilen und die Lücken sich eher füllen würden, wenn er sich mal hier, mal da aufhalten und ständig in Bewegung bleiben könnte. Ein Job als Wachmann oder als Trainer in einem Fitnesszentrum kam ebensowenig in Frage; dafür war er noch nicht fit genug. Seine einzige Niere machte ihm hin und wieder Schwierigkeiten und die Knochen, die beim Unfall gebrochen waren, verursachten immer noch Schmerzen. Nüchtern betrachtet, hatte er eigentlich fast nur eine einzige Alternative: Auto zu fahren.
    Halil reagierte auf Zeitungsanzeigen, wandte sich an große Firmen, Taxiunternehmen und einfach überallhin, wo er als Fahrer arbeiten könnte, bekam aber von den meisten nicht einmal eine Antwort. Andere meldeten sich knapp mit einem »Leider nein«.
    Er war schlimm verschuldet; beim Lebensmittelhändler, beim Obst- und Gemüsehändler und beim Fleischer. In dieser langen und bedrückenden Wartezeit unternahm Halil lange Spaziergänge und suchte bei jeder Gelegenheit den Unfallort auf. Das Zigeunermädchen konnte er noch deutlich vor sich sehen, aber dieser Erscheinung kein neues Bild, keine neue Erkenntnis hinzufügen.
    Während er halb satt, halb hungernd auf den Gipfeln der Hoffnungslosigkeit trieb, wurde er von einem Taxiunternehmen angerufen, bei dem er vorgesprochen hatte. Ohne einen Augenblick zu verlieren, erschien er dort, erklärte sich mit allen Bedingungen einverstanden und nahm gleich die Arbeit auf.
    Schon lange hatte er kein Auto gefahren. Als er sich jetzt zum ersten Mal wieder ans Steuer setzte, fragte er sich besorgt: »Und wenn ich es vergessen habe?« Ein feiner Schweißtropfen lief ihm von der Stirn. Vor ihm das Lenkrad, unter seinen Füßen die Pedale, in seiner Pranke der Schalthebel … er hatte das Gefühl, zum ersten Mal in seinem Leben auf einem solchen Sitz Platz genommen zu haben. Doch dann, ganz so, als hätte ihn jemand per Fernbedienung in Bewegung gesetzt, schaltete er den ersten Gang ein, drückte langsam aufs Gas, während er gleichzeitig die Kupplung unter seinem Fuß losließ, und der Wagen schob sich wie geschmiert in die Gassen Istanbuls.
    Die Fahrt zerstreute Halils Sorgen; ein Gefühl von Behaglichkeit

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