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Der hinkende Rhythmus

Der hinkende Rhythmus

Titel: Der hinkende Rhythmus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gaye Boralıoğlu
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    Seiner großen Verantwortung bewusst, nahm Yunus mit stolzer Brust den Zeitungsausschnitt mit der Unfallmeldung in die Hand und ging zur (Şişli-Etfal-Klinik. Dort angekommen, neigte er den Kopf zur Seite, nässte seine Augen und gab sich eine sehr hilflose Erscheinung. Er ging hinein. Er fasste eine mütterlich wirkende Frau von mittlerem Alter ins Auge, die in der Anmeldung herumspazierte und deren Gutgläubigkeit ihr im Gesicht geschrieben stand. Schnell reihte er die überzeugendsten Sätze mit der mitleiderregendsten Stimme aneinander. Er hieß Yunus Mavioğlu. Halil Mavioğlu war sein leiblicher Vater. Weil seine Mutter mit einem anderen rummachte, hatte er das Haus verlassen. Tatsächlich hatte seine Mutter einen anderen Mann geheiratet, sobald sein Vater weg war. Sein Stiefvater war ein ganz Schrecklicher. Jeden Tag prügelte er ihn. Er sperrte ihn im Haus ein. Und erlaubte ihm nicht, seinen wirklichen Vater zu sehen. Aber hier, das Schicksal hatte seine Fäden gesponnen und der Krämer hatte das Brot in diese Zeitung eingewickelt. So hatte Yunus eine heiße Spur zu seinem Vater gefunden. Dieser Halil Mavioğlu in diesem Bericht war sein echter wirklicher leiblicher Vater. Sein Ein und Alles, sein einziggeliebter Vater. Er wollte ihn finden. Könnte vielleicht die Tante mit dem guten Herzen ihm helfen?
    Die Frau hatte sich diese Geschichte, die Yunus mit gebrochener Stimme, aber um Haltung bemüht, vorgetragen hatte, mit Tränen in den Augen angehört und war von diesem armen, stolzen Kind beeindruckt. Hätten sie noch ein wenig länger miteinander gesprochen, hätte sie ihn glatt adoptiert. Aus der Tasche ihrer Arbeitsuniform, in die sie ihren fülligen Körper mit Mühe hineingezwängt hatte, zog sie ein Taschentuch heraus, trocknete ihre Tränen und sagte: »Ich werde dir helfen, mein Kind.« Yunus ließ sich seine Freude nicht anmerken, er war ja ein stolzer Junge! Stattdessen sagte er in dem Ton eines Priesters: »Gott wird Ihnen diese gute Tat vergelten, Sie sind für mich sowieso ein Engel.«
    Jetzt war die Frau gänzlich erweicht, sie wäre sogar bereit gewesen, nicht nur alle Informationen über Halil Mavioğlu preiszugeben, sondern Yunus das gesamte Archiv der Klinik zur Verfügung zu stellen. »Warte vor der Tür auf mich«, sagte sie und verschwand. Yunus begann zu warten. Wenig später kam sie mit einem Notizzettel in der Hand zurück. Im selben Augenblick schnappte sich Yunus den Zettel. Und während sie noch sagte: »Erzähl es bloß niemandem, dass ich dir das gegeben habe, ist eigentlich verboten …«, war Yunus schon längst weit weg.

    Yunus führte seinen Auftrag tadellos aus. Sofort begab er sich an die Adresse, die er bekommen hatte. Das Passfoto Halils auf dem Zeitungsausschnitt, offenbar einem Führerschein entnommen, studierte er sorgfältig, prägte sich die Gesichtszüge ein, bezog gegenüber seines Hauses Quartier und beobachtete ihn beim Rein- und Rausgehen.
    Yunus hatte im Laufe der Ereignisse stark abgenommen, und sein kleiner Körper war noch winziger geworden. Als er in dieser Straße mit blassen, völlig charakterlosen Häusern mit gesenktem Kopf und Händen in den Taschen auf und ab ging, schien er einen Umhang der Unsichtbarkeit auf den Schultern zu tragen. Er hatte die Farbe des Asphalts und die Formen des Betons angenommen. In all den Tagen sprach ihn niemand an, niemand fragte, was er hier treibe und wer er überhaupt sei. Er wurde nicht einmal wahrgenommen.
    Er konnte sich an den Augenblick erinnern, als er Halil zum ersten Mal gesehen hatte. Eines frühen Abends war Halil müde und abgekämpft zu Fuß nach Hause gekommen. Als er am Anfang der Straße erschienen war, womöglich sogar einen Moment davor, hatte ein kalter Wind Yunus’ Herz gestreift. Er hatte sich rasch hinter einem Baum versteckt und aufmerksam beobachtet, wie der andere sich dem Haus nähert, seinen Schlüssel herauszieht, die Tür öffnet und eintritt und wie kurz danach, in Übereinstimmung mit der Adressangabe, in einer Wohnung im dritten Stock Licht angeht. Das Licht war bald wieder ausgeknipst worden und wurde die ganze Nacht nicht mehr eingeschaltet. Offensichtlich hatte er sich früh schlafen gelegt.
    Bei seinem ersten Anblick hatte sich Yunus eingestehen müssen, dass Halil gut aussah. Ehrlich gesagt, er würde später auch so aussehen wollen. Halil war nicht besonders großgewachsen, aber gut gebaut. Seine starken Muskeln konnte man durch die Jacke hindurch erahnen. Beim

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