Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der hinkende Rhythmus

Der hinkende Rhythmus

Titel: Der hinkende Rhythmus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gaye Boralıoğlu
Vom Netzwerk:
verstanden nicht einmal, wie ihnen geschah.
    Tatsächlich kam ihre Mutter einige Male vorbei und brachte sogar ein wenig Geld mit. Dann verschwand sie gänzlich. Die Geschwister blieben allein.
    Nicht einmal diese Zweisamkeit konnte Güldanes Hartnäckigkeit brechen. Sie war Yunus gegenüber immer noch kühl und distanziert. Meistens saß sie im hinteren Zimmer, schloss die Tür, reagierte nicht auf Yunus’ Zurufe, oder sie schleuderte ein paar Beschimpfungen hinaus, wenn er zu sehr insistierte, und jagte ihn fort. Nur wenn sie Hunger hatte, kam sie, um etwas zu essen. An ihrer armen Tafel teilten sie das Wenige, was sie an Essbarem auftreiben konnten.
    Yunus war völlig verzweifelt. Er vermisste seine Schwester, obwohl sie im gleichen Haus lebten. Die Zeiten, in denen sie zusammen einschliefen, zusammen über die Straßen schweiften, zusammen lachten, zusammen durch den Schlamm wateten, zwischen Müllhaufen Fangen spielten, in denen Yunus trommelte und Güldane sich auszog, in denen sie ihre Vorstellungen machten und Geld verdienten und dann mit diesem Geld Brauselimonade, Maronen, Mais kauften und in den Lunapark gingen und Karussell fuhren, vermisste er schmerzlich. Sie lebten unter dem gleichen Dach, aber er war einsam. Er war allein, mutterseelenallein.
    Yunus war sich im Klaren, dass nach Cevdets Tod auch er Verantwortung für die Versorgung der Familie trug. Aber er wusste auch, dass er ohne Güldane ein Nichts war, ein großes Nichts!
    Einige Male hatte er sich an die älteren Jungs des Viertels herangeschlichen und um Erlaubnis gebeten, mit ihnen durch die Meyhanes zu ziehen, Tamburin zu spielen und Trinkgeld einzusammeln. Aber in diesen Zeiten der Knappheit, wo das Brot im Maul des Löwen lag, wollte niemand sein Trinkgeld teilen. Ohnehin durften die Roma in den meisten Lokalen nicht mehr spielen, die Gäste zogen es vor, mit Kanun und Laute unterhalten zu werden. Außer ein paar Meyhanes in Kumkapı und am Fischmarkt in Beyoğlu gab es keine Gaststätte mehr, in der man Zigeunern das Musizieren erlaubte. Und diese standen unter der Aufsicht des Hohen Kommissariats der Älteren aus dem Viertel; selbst wenn ihre Väter tot und auf dem Platz des Viertels aufgestellt worden waren, selbst wenn ihre Mütter mit Immobilienmaklern durchbrannten, hatten Grünschnabeltamburinspieler dort nichts zu suchen.
    Yunus, der nach Safiyes Verschwinden vollends verzweifelte, versuchte daraufhin, in Beyoğlu auf eigene Faust sein Glück und verdiente anfangs auch gar nicht so schlecht. Aber zwei Tage später versperrten ihm junge Männer aus Tophane, die sich mit ihren Trommeln in unmittelbarer Nähe niedergelassen hatten, den Weg, packten ihn am Kragen, rissen ihn hoch und sagten, sollte er sich hier noch einmal blicken lassen, dann würde er nie mehr den Boden mit den Füßen berühren können, er würde immer so in der Luft rumfliegen, bis er endlich ins Grab kam! Yunus bekam Angst und traute sich seitdem nicht mehr, allein nach Beyoğlu zu gehen.
    Eigentlich wusste er einen Ausweg für sie beide. Wenn Güldane tanzen und er sie auf seinem Tamburin begleiten würde, könnten sie bestimmt in einer Meyhane Arbeit finden und auch auf der Straße gutes Geld einsammeln. Er wurde immer von allen weggejagt, denn er war klein, er war schmächtig, war ein ängstlicher, hässlicher Junge, aber Güldane könnte niemand schief angucken; sie war schön, klug, bezaubernd, wunderbar. Sie war Frau!
    Am vierten Tag, an dem sie sich gegenübersaßen und sich wieder von den Resten ernährten, eröffnete Yunus seiner Schwester diese Idee.
    »Wenn wir beide uns zusammentun, kann uns niemand was, niemand kann dir was sagen, wir zwei können unser Geld nicht mehr zählen, wir zwei … wir sind dann eine Gemeinschaft … wir zwei …«
    … sagte er gerade noch, da knallte Güldane ihren Löffel in ihren Teller. Die Tarhana-Suppe spritzte auf Yunus’ Gesicht.
    »Es gibt kein Wir Zwei«, sagte sie. »Wir sind keine Gemeinschaft. Du bist ein dreckiger Petzer. Ein Scheißer, der seinen Mund nicht halten kann.«
    Voller Wut packte sie Yunus am Kinn und drückte fest zu. Die Suppe lief ihm aus dem Mund. »Wenn du diesen Schnabel gehalten hättest, wäre mein Vater vielleicht noch am Leben. Du hast meinen Vater umgebracht, kapiert? Du!«
    Da fing Yunus gellend an zu schreien. Und schrie drei Tage lang ununterbrochen. Güldane verschanzte sich im hinteren Zimmer, knallte die Tür zu, zog sich die Decke über den Kopf und presste das Kissen aufs

Weitere Kostenlose Bücher