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Der hinkende Rhythmus

Der hinkende Rhythmus

Titel: Der hinkende Rhythmus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gaye Boralıoğlu
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und ein paar Stunden später wieder gegangen. »Wird sie wieder kommen?«, notierte Güldane. An jenem Abend erlaubte sie Yunus, nach dem Baden ihre Haare zu kämmen, weil er ihr diese Information gebracht hatte.
    Yunus berichtete, Halil habe zwei Tage lang die Wohnung nicht verlassen. »Ist er krank?«, schrieb Güldane auf. An jenem Abend erlaubte sie Yunus, an ihrem Fußende zu schlafen.
    »Heute ist er um zehn rausgegangen«, sagte Yunus. »Ausgang zehn«, schrieb Güldane auf. »Er kam um fünf«, sagte Yunus. »Ankunft fünf«, schrieb Güldane auf.
    »Mir wird sehr langweilig«, sagte Yunus, Güldane schwieg. Sie zog sich in ihr Zimmer zurück, schloss die Tür und Yunus blieb wieder allein.

    Ein paar Tage später sagte Güldane: »Du musst nicht mehr hin.« Yunus freute sich tatsächlich über diese Neuigkeit. Die letzten Tage hatten ihn sehr erschöpft. Im Matsch und Regen, hungernd und durstend, für einen Zweck, den er nicht kannte und nicht verstand, auf der Straße zu warten, hatte ihm vollends die Kräfte geraubt.
    Zu allem Überfluss war auch die Kohle zur Neige gegangen, die Cevdet Anfang Winter gekauft hatte. Nun verbrannten die Geschwister Holzstücke, die sie auf der Straße fanden, und klauten, wenn es ihnen gelang, Brennholz aus dem Nachbarviertel.
    Safiye kam sehr selten vorbei, brachte nur hin und wieder ein wenig Geld mit und erzählte, die Geschäfte Cevdets des Zweiten liefen nicht gut, es sei Krise, der ganze Immobilienmarkt würde Rotz und Wasser heulen. Eigentlich vermisste sie ihre Kinder sehr. Könnte sie einen Weg finden, würde sie alles stehenlassen und zurückkommen. Aber sie fand keinen. Trotzdem war ihre Hoffnung nicht erloschen. Sie wusste, dass diese Krise enden, der Immobilienmarkt wieder aufleben und Cevdet sehr viel Geld verdienen würde, und dann würden sie zusammen in ein viel größeres Haus ziehen und als eine riesige, prachtvolle Familie bis in alle Ewigkeit glücklich zusammenleben.
    Güldane und Yunus nickten ungläubig, während ihre Mutter sprach. Safiye saß wie ein Gast ein paar Stunden da, stand irgendwann mit der Erklärung »Meiner kommt jetzt gleich und will Essen aufgetischt haben« auf, küsste Güldane auf jedem Zentimeter ihres Gesichts regennass ab, drückte Yunus an ihre Brüste und zog von dannen.
    Jetzt waren zehn Tage seit Safiyes letztem Besuch vergangen. Der Kühlschrank war leergefegt. Güldane konnte sich nicht einmal erinnern, wann sie zuletzt etwas gegessen hatte. Seit langem erschütterte ein bösartiger Husten ihren zarten Körper. Sie spürte, dass ihre Kräfte schwanden und ihr Blut sich zurückzog.
    Mit letzter Hoffnung entschloss sie sich, beim Krämer etwas auf Anschreiben zu ergattern. Sie ging aus dem Haus. Es war kalt, ein graugelber Nebel hing in der Luft. Sie wickelte sich fest in ihren Mantel ein. Sie lief mit gesenktem Kopf, und da schwante ihr, dass weiter vorne etwas Dunkles erschien. Sie blieb stehen, ihr Herz fing wieder an, in jenem bekannten, nervenden Rhythmus zu schlagen. Sie hob den Blick. Direkt vor ihrer Nase stand Halil. Aus seinem Gesicht rann Blut, aus seinen Augen spien Flammen. Güldane spürte, wie sich alles in ihr drehte. Ihr schwindelte. Sie kämpfte mit aller Kraft, um auf den Füßen zu bleiben, versuchte, sich irgendwo festzuhalten. Sie fand keinen Halt. Der graugelbe Nebel wurde dunkler, dichter. Häuser, Türen, Bäume wurden immer verschwommener. Halil wurde verschwommener. Güldane spürte ihr Herz leichter werden. Dann wurde alles ganz schwarz.

Der Südwind
    Güldane fiel nicht hin. Halil konnte ihr im letzten Moment unter den Arm greifen. So blieb sie an seiner Hand hängen.
    Eine Weile stand Halil unentschlossen da. Sollte er diesen Wassertropfen abwerfen und seines Weges gehen? Oder …
    Nein, er hatte mit ihr noch eine Rechnung zu begleichen. Es gab im Zentrum seines Lebens eine schummrige Ecke, die er aufhellen musste.
    In der Hoffnung, dass sie vielleicht zu sich kommen würde, schüttelte er sie. »Wach auf«, sagte er. »Hey, wach auf!«
    Güldane stöhnte leicht, aber mehr geschah nicht.
    Da fasste Halil einen Entschluss. Er nahm das Mädchen auf die Arme. Als er mit ihr zu seinem Wagen lief, den er etwas weiter hinten geparkt hatte, sah Betoncevdet in der Mitte des Platzes, eine Hand zum Himmel gerichtet, die beiden hilflos an.
    Dieses Mal packte Halil Güldane nicht in den Kofferraum, sondern setzte sie auf den Vordersitz. Er schnallte sie an und schloss alle Türen des Wagens ab. Güldane

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