Der hinkende Rhythmus
schlief mit zurückgelehntem Kopf wie ein Engel.
Während Halil ziellos über die Straßen Istanbuls fuhr, konnte er nicht einmal eine einzige der hundert Fragen beantworten, die in seinem Kopf geisterten. Wo sollte er jetzt hin? Warum war das Mädchen ohnmächtig geworden? Vor Angst? Oder litt sie unter einer Krankheit? Sollte er sie ins Krankenhaus bringen? Hatte jemand sie gesehen? Wenn ja, hatte dieser jemand vielleicht gedacht, das Mädchen werde entführt? Wann würde sie wieder zu sich kommen? Wo würde sie wieder zu sich kommen? Was wollte er ihr sagen, wenn sie wieder aufwachte? Und wenn sie starb? Wenn sie unheilbar krank war und hier im Wagen, auf der Stelle, starb? Warum hatte er dieses Mädchen in sein Auto gesetzt? Warum war er ihr ein weiteres Mal entgegengetreten? Blutete sein Gesicht noch immer? Wer hatte die Glasscherben in das Kissen gestopft? Könnte ein Mensch an Kraftmangel sterben? Wie lange konnte ein kraftloser Mann leben? Wie konnte sich ein Mann dermaßen hilflos fühlen? Angst, Hilflosigkeit, Sorgen … gab es denn keine Möglichkeit, diese Worte loszuwerden? Gab es eine Möglichkeit, dieses Mädchen loszuwerden?
Die Fragen irrten in Halils Kopf umher, stießen gegeneinander, brachen entzwei und vermehrten sich. Sein Weg wurde immer länger.
Güldane lag auf dem Sofa in Halils Wohnzimmer. Eine rote Strähne fiel ihr auf die Stirn. Die Augen waren geschlossen. Auf ihrem Gesicht lag ein sarkastisches Lächeln, oder vielleicht kam es Halil nur so vor. Ihr Mund stand leicht offen. Ihr Atem ging sehr schwach, aber regelmäßig. Ein Arm hing nach unten. Ihr Mantel mit braunen Knöpfen, der wer weiß wem gehörte, war offen. Darunter trug sie eine dunkelgrüne Strickjacke. Der runde Ausschnitt umrahmte Güldanes langen, glatten Hals. Sie hatte einen Rock aus billigem Stoff mit Blumenmuster an. Der Rock war leicht hochgerutscht, man sah ihre Knie. Ihre dünnen, aber wohlgeformten Beine waren in eine dunkelgraue Strumpfhose gehüllt und ihre Füße steckten in Halbstiefeln, die ihr vermutlich ein wenig zu groß waren. Sie hatte die Schnürsenkel ziemlich lose zugebunden und die stark verrutschten Knoten verrieten, dass sie sie seit langem nicht gelöst hatte.
Halil saß etwas weiter weg auf einem Stuhl. Er schaute Güldane fest an. Wenn er den Mut dazu gehabt hätte, könnte er ihr ein wenig Kölnisch Wasser auf das Gesicht auftragen oder mit kaltem Wasser ihren Hals befeuchten oder so … aber er brachte es nicht fertig. Er wusste, dass er es nicht schaffen würde. Es war unmöglich.
Es war fast eine halbe Stunde vergangen, seit Güldane in Ohnmacht gefallen war. Er beschloss, weitere zehn Minuten zu warten.
In der siebten Minute regte sie sich ein wenig. Halil schluckte. Sie atmete tief und lange ein und wieder aus. Irgendwann öffnete sie langsam die Augen. Als würde sie aus einem jahrelangen Schlaf erwachen, wirkte sie benommen, verwirrt. Wie schaffte es ein Wesen, so unschuldig zu erscheinen? Sie sah sich um, ohne sich zu regen, schließlich fanden ihre Augen Halil.
»Wo bin ich hier?«
»Das weißt du.«
Güldane sah sich noch einmal um. Ein Fernseher, ein alter Sessel, die Küche, die man durch den Türspalt sah, die unordentliche Küchentheke, der Rand eines Herds, ein Korridor mit einem schmutzigblauen Anstrich, ein Bild von einem Berg an der Wand …
»Wie bin ich hierhergekommen?«
»Du bist ohnmächtig geworden, als du mich gesehen hast.«
Güldane richtete ihren flammenden Blick auf Halil. Er erschrak, blieb eine Weile still. Dann sagte er leise:
»Wenn ich dich losgelassen hätte, wärst du hingefallen. Ich hab dich festgehalten.«
Güldane beruhigte sich für kurze Zeit.
»Wo bin ich hier?«
»Weißt du es nicht?«
Güldane richtete sich auf, setzte sich gerade hin. Sie prüfte ihre Kleidung, hüllte sich in ihren Mantel ein.
»Woher soll ich das wissen? Bist du bescheuert oder was?«
»In meiner Wohnung.«
Güldane schaute auf die Wände.
»Wo ist das Klo?«
Halil zeigte in die Richtung. Güldane schwankte leicht beim Aufstehen. Sie stützte sich an der Wand ab. Offensichtlich war ihr noch immer schwindlig. Halil blieb sitzen. Die Füße über den Boden schleifend ging sie auf die Toilette.
Halil horchte. Von drinnen kamen Wassergeräusche. Bestimmt wusch sie ihr Gesicht. Eine Weile Stille, dann wurde gespült. Noch einmal wurde der Wasserhahn aufgedreht. Wasser floss. Der Hahn wurde wieder zugedreht.
Etwas lebendiger und nicht mehr so bleich wie eben kam
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