Der hinkende Rhythmus
Ohr.
Bald hielten es die Bewohner des Viertels auch nicht mehr aus. Sie kamen nacheinander vorbei, sprachen auf ihn ein und versuchten, ihn zum Schweigen zu überreden. Es gelang aber niemandem und keiner konnte erfahren, was geschehen war. Manche tadelten Yunus und schrien ihn an, andere streichelten ihm das Haar und versuchten es auf die sanfte Art, wieder andere drohten oder versuchten, ihm den Mund zu stopfen, und manch einer warf aus ein paar Metern Entfernung Nüsse in seinen offenen Mund und lachte ihn aus. Aber was man auch tat, es blieb ergebnislos. Auch wenn Yunus hin und wieder wegen der Speisen und Getränke, die in seinen Mund gekippt wurden, fast erstickt wäre, begann er wieder zu brüllen, sobald er sich nach vielem Husten und Prusten in den Griff bekommen hatte.
Natürlich richteten sich alle Augen auf seine Schwester. Neugierige Fragen prasselten auf sie nieder, sie wurde aufgefordert, einen Weg zu finden, um Yunus’ Geschrei zu beenden, und als auch von ihr keine Abhilfe kam, besorgten sich die Nachbarn Ohrstöpsel und zogen sich wieder zurück.
Am Ende des dritten Tages kam Güldane aus dem Zimmer heraus, baute sich vor Yunus auf und sagte: »Wenn du schweigst, gebe ich dir einen Auftrag.«
Yunus schwieg auf der Stelle. Ohne den Blick von Güldane zu lösen, wartete er gespannt auf die Entgegennahme seiner Aufgabe. Aber weil er drei Tage lang nichts anderes getan hatte als zu schreien und keinen Bissen zu sich genommen hatte, war er so hungrig, dass er, noch bevor Güldane ihr erstes Wort herausbringen konnte, rücklings in Ohnmacht fiel. Güldane sah im Kühlschrank nach, fand dort ein Ei und Milch, schlug das Ei in die Milch, bröselte Brot hinein und ließ Yunus, ohne auf seine Würgegeräusche zu achten, diese Mischung trinken. Nachdem er die Suppe runtergekippt und ein Glas Wasser getrunken hatte, kam Yunus zu sich und fragte sofort: »Was soll ich tun?«
»Erinnerst du dich an Halil Mavioğlu?«
»Halil Mavioğlu? Wer ist denn der?«
»Da war doch dieser Zeitungsschnipsel. In meinem Heft …«
»Ach ja, dieser Kerl, der mit seinem Wagen in die Baugrube geflogen ist.«
»Genau der.«
»Und? Was ist mit ihm?«
»Du wirst ihn beobachten.«
»Was?«
»Du wirst ihn beobachten, habe ich gesagt. Was er tut und lässt, wo er wohnt, mit wem er lebt, was er arbeitet, wann er nach Hause kommt, wann er rausgeht, alles wirst du erfahren. Und du wirst dich verstecken.«
Yunus’ Augen glänzten:
»Wie ein Agent?«
»Wie ein Agent. Wie der geheimste Geheimagent.«
Diese Arbeit gefiel Yunus, er fand es aufregend. Aber bereits nach wenigen Sekunden stieg eine Sorgenwolke von seinem Magen her auf.
»Wer ist dieser Mann? Warum soll ich ihn verfolgen?«
Güldanes Augen sprühten Feuer.
»Was geht dich das an?«
»Aber …«
»Kein aber. Du wirst keine Fragen stellen. Du wirst nicht warum sagen, du wirst nicht aber sagen. Sonst schweige ich und rede mein ganzes Leben lang nie mehr mit dir.«
Yunus hielt erschrocken seinen Mund zu.
»Ich schweige. Gut, ich werde nicht fragen.«
Güldane strahlte siegreich. Sie hob ihr Kinn leicht an und sagte: »Fang sofort an mit deinem Auftrag.«
»Gut, aber wie soll ich anfangen, wo finde ich diesen Kerl?«
»Ohoo … was bist du denn für ein Agent?«
Dabei sah Güldane von oben herab auf ihren Bruder. Yunus schrumpfte zusammen, wurde ganz klein. So fand sie ihn sympathisch, sie lächelte.
»Mach dir keine Sorgen, ich werd’s dir schon sagen.«
Wenn Güldane lachte, war für Yunus das Leben in Ordnung. Er würde diesen Mann selbst am anderen Ende der Welt aufspüren, würde ihn bis vor Güldanes Füße zerren, und sollte sie ihm sagen, schieß, er würde schießen, würde sie sagen, töte, er würde ihn töten, schließlich kannte das Leben keine Grenzen, wenn Güldane lachte. In dieser Aufregung sprang er ihr so stürmisch an den Hals, dass sie ihr Gleichgewicht verlor und umfiel. Er ließ sich auch fallen und sie wälzten sich zusammen auf dem Boden. Yunus war überglücklich.
Am nächsten Tag teilte Güldane ihrem Bruder die einzige heiße Spur mit, die ihr bekannt war: das Krankenhaus, in dem Halil nach dem Unfall behandelt wurde. Dort gab es bestimmt einen Eintrag über ihn. Mit großer Wahrscheinlichkeit war auch seine Adresse notiert. Wenn nicht, sollte er in den Telefonbüchern suchen, und wenn das nichts brachte, bei der Strom- und Wassergesellschaft nachfragen. Wenn auch das nichts nützen sollte, musste er Straße für Straße ganz
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