Der hinkende Rhythmus
Gehen bog er die Beine leicht nach außen, wie ein Sportler. Man sah ihm an, dass er nicht zu jenen Zeitgenossen gehörte, auf die man ohne Weiteres zutreten konnte, um etwas zu fragen oder eine Unterhaltung anzufangen. Er wirkte, als hätte er einen dicken Panzer um sich gelegt und es sich darin gemütlich gemacht. Halil hatte etwas, das Yunus ängstigte und ihm unbekannt war.
Je länger er Halil beobachtete, umso mehr wetteiferten in ihm Gefühle von Neugier und Neid, aber das Geheimnis seines seltsamen Auftrags war stärker als alles andere. Den Glanz in Güldanes Augen zu sehen, wenn er ihr von einem neuen interessanten Detail berichtete, zu erleben, wie das Eis, wenn auch nur ganz allmählich, zwischen ihnen schmolz und Güldane sich ihm schrittchenweise näherte, wog die Kälte auf der Straße, das stundenlange Herumstehen und die langweiligen Tage des ewigen Wartens auf.
Yunus hatte bald herausgefunden, an welchem Taxistand Halil arbeitete, wann er Nachtdienst hatte, und sich über alle Menschen Notizen gemacht, die bei ihm ein und aus gingen.
Jeden Tag erzählte er Güldane, was er gesehen und erfahren hatte, und Güldane kritzelte etwas in das Heft, das sie im Schreibwarengeschäft billig erstanden hatte. Ein paarmal fragte Yunus vorsichtig, was sie da aufschrieb, aber Güldane schubste ihn sofort weg, klappte das Heft zu und antwortete nur: »Was geht’s dich an?«
Eines Tages sagte Yunus: »Heute ist Halil auf den Friedhof gegangen.«
Diese Neuigkeit weckte Güldanes Interesse:
»Auf den Friedhof? Auf welchen?«
»Nach Zincirlikuyu«, sagte Yunus.
»Bist du ihm gefolgt? Und wie?«
»Er ist zu Fuß gegangen. Und ich ihm hinterher.«
»Und dann?«
»Und dann, er ging eben auf den Friedhof.«
»Was hat er dort gemacht? Erzähl doch mal vernünftig.«
»Was soll er machen? Er hat ein bisschen vor einem Grab gestanden. Dann ist er wieder gegangen.«
»Hat er ein Gebet gesprochen? Hat er Wasser hingestellt? Was hat er gemacht?«
»Nein, er hat nichts gemacht. Er ist wieder rausgegangen. Und dann ist er in einen Minibus gestiegen, deswegen konnte ich ihm nicht mehr folgen.«
»Und wessen Grab war das?«
»Woher soll ich das wissen?«
»Was heißt woher soll ich das wissen? Hast du nicht geguckt? Hast du nicht gelesen? Was stand auf dem Grab?«
Yunus wurde ganz klein. »Ich hab nicht geguckt.«
Güldane gab ihm eine leichte Ohrfeige.
»Blödkopf! Geh schnell zu diesem Grab. Guck, wer das ist, was auf dem Grab steht.«
In solchen Momenten wurde Yunus sehr traurig. Das war ungerecht. Er tat alles, was er konnte. Er versuchte, alles zu erfüllen, was Güldane von ihm wollte, aber er konnte es ihr nie recht machen. Trotz seiner Neugier fragte er nicht einmal, wer dieser Kerl war, nur weil er es Güldane versprochen hatte; er versuchte nicht einmal zu erfahren, warum er ihn verfolgte. Den ganzen Tag lang fielen ihm vor Müdigkeit die Füße ab, er platzte vor Langeweile, seine Hände, seine Ohren froren ab, aber aus Pflichtbewusstsein ertrug er alles. War das nun der Preis dafür? Eine Ohrfeige einzukassieren, nur weil er eine Kleinigkeit vernachlässigt hatte! Der Teufel flüsterte ihm ein, geh einfach fort. Lass dieses Mädchen hier allein sitzen und geh fort!
Yunus verzog zwei Tage lang das Gesicht. Er sprach nicht mit Güldane. Er ging auch nicht aus dem Haus, folglich beobachtete er Halil nicht. Missmutig und stumm saß er zu Hause und sah den ganzen Tag fern.
Zwei Tage lang sagte auch Güldane nichts. Danach bäumte sie sich neben ihrem Bruder auf und zog ihm die Decke weg. Als er mit seiner Unterhose, die ihm eine Nummer zu groß war, unbedeckt im Bett lag, fühlte er sich so ausgeliefert, dass er Güldane nicht widersprechen konnte, als sie sagte: »Pass mal auf, deine Depressionen kannst du für dich behalten. Steh auf und verfolge den Mann. Sonst findest du dich so nackig auf der Straße wieder!« So zog er sich an und machte sich auf den Weg. Damit endeten die Tage der Griesgrämigkeit, Yunus widmete sich wieder mit großer Aufmerksamkeit seinem Agentendasein.
Zuerst suchte er den Friedhof auf und las den Namen auf dem Grab: Ümmü Mavioğlu. Während er seiner Schwester von Details berichtete, notierte sich Güldane: »Wenn man von ihrem Geburtsdatum ausgeht, kann das nur seine Mutter sein.« An jenem Abend erlaubte sie Yunus, in ihrem Zimmer zu schlafen, weil er ihr diese Information gebracht hatte.
Yunus berichtete, eine Frau, die nicht nach einer Türkin aussah, sei gekommen
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