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Der Hirte (German Edition)

Der Hirte (German Edition)

Titel: Der Hirte (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Richard Dübell
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Venia sah ihm in die Augen. Nach einem Moment lächelte sie erneut, aber flüchtiger als zuvor.
„In deine Hände befehle ich meinen Geist“, sagte sie. „Geh nicht leichtfertig damit um.“
„Ich bringe Euch und die Kinder in Sicherheit“, brummte Rainald und wandte sich ab. „Blanka, was lassen wir denn nun von den Sachen hier, verdammt noch mal?“

***

Das Geheul der Wölfe folgte ihnen lange auf ihrem Weg durch knietiefe Schneeverwehungen, unter denen sich abgebrochene Äste vom letzten Herbststurm und herabgefallenes Gezweig versteckten. Als es endlich verstummte, fühlte Rainald sich beinahe noch beklommener als zuvor. Sie stolperten und taumelten mehr, als dass sie gingen. Rainalds Arme waren wie tot vom Gewicht Blankas; dass sie allen Erwartungen zum Trotz an seiner Schulter eingeschlafen war, machte die Sache nicht leichter. Johannes folgte Rainald dicht auf, humpelnd und zuweilen ächzend, aber er kam voran. Rainald suchte nach der Wut auf ihn und fand stattdessen Stolz. Schwester Venia machte den Abschluss. Er hatte gedacht, dass sie irgendwann ein Lied anstimmen würde, um ihnen allen Mut zu machen; stattdessen hatte sie bereits zweimal „Verflixt!“ gemurmelt, als sie in den Schnee gefallen war, und einmal hatte Rainald sie unter ihrem Atem „Miststück!“, sagen hören, als ein Ast hochschnellte und ihr beinahe eine Ohrfeige gegeben hätte. Er war höflich genug gewesen, sich nicht zu ihr umzudrehen, und ahnte, dass sie, wenn er es doch getan hätte, ihn nur herausfordernd angefunkelt hätte. Er lächelte beim Gedanken daran.
„Hier geht’s zur Furt“, sagte Rainald und bog ab.
„Es sieht hier nicht anders aus als an allen Stellen, an denen wir schon vorbeigekommen sind“, erklärte Schwester Venia. Sie stemmte die Hände in die Hüften und sah sich nach allen Seiten um. „Tatsächlich könnte ich nicht mal beschwören, dass wir hier nicht schon einmal waren.“
„Keine Sorge“, sagte Rainald. „Kommt jetzt.“
„Nein, ernsthaft. Woran hast du die Abzweigung erkannt?“
Rainald holte zu einer barschen Antwort aus, als sein Blick auf Johannes fiel. Der Junge keuchte und war totenblass. Er drückte die Hand auf den Verband über seiner Wunde und biss sich auf die Lippen. Rainald sah zu Schwester Venia hinüber, die ihn unverwandt anstarrte. Zu seinem eigenen Erstaunen hörte er sich sagen: „Seht Ihr diesen Baum hier? Der ist … äh … hier an der Rinde … das sieht aus wie ein Auge, seht Ihr?“
„Stimmt“, sagte Schwester Venia.
Rainald beobachtete aus dem Augenwinkel, wie Johannes sich langsam aufrichtete und ausatmete. Er nahm die Hand von der Wunde.
„Das Auge sieht genau in die Richtung … äh … in die Richtung, von der man sich eine Vierteldrehung abwenden muss, um zu wissen, wohin es zur Furt geht.“
„Erstaunlich.“
Johannes schloss die Augen und holte tief Atem. Etwas Farbe kehrte in sein Gesicht zurück. Blanka murmelte etwas im Schlaf. Rainald drückte sie an sich. Johannes öffnete die Augen wieder und sah sich um.
„Dann los“, sagte Schwester Venia.
Rainald nickte. „Alles klar bei dir?“, fragte er Johannes.
„Mir geht’s gut. Du musst mich bestimmt nicht tragen!“
„Oh, Verzeihung“, sagte Rainald. Er wandte sich ab, bevor das Gefühl, dass er und Johannes sich jemals wieder würden versöhnen können, zu mächtig wurde. Es gab Fehler, die konnten nicht verziehen war, nicht einmal vom eigenen Vater. Johannes stapfte mit gesenktem Kopf an ihm vorbei. Rainald folgte ihm den beginnenden Abhang hinunter, an dem er oft genug vorbeigekommen war, um zu wissen, dass an seinem Fuß die Furt lag, deren Existenz er bisher vor allen hatte geheim halten können und die zu finden es keiner Augen auf Baumrinden bedurfte, schon gar nicht, wenn der Wald hier mit Buchen durchsetzt war und augenförmige Flecke sich an jeden zweiten Baum fanden. Er pflügte durch den Schnee und sah den Wölkchen zu, die vor seinem Mund verpufften wie der Funken guter Laune in seinem Herzen.
„Da drüben ist die Furt“, sagte er.

***

„Es ist Wahnsinn!“, sagte Schwester Venia. „Warum kannst du das nicht einsehen?“
Rainald stocherte mit einem langen Ast im Fluss herum. Das Ufer war glitschig, von Eisplatten überzogen und mit Wurzeln durchsetzt. Die Kinder saßen auf Rainalds Pelz an einen Baumstamm gelehnt; Blanka döste unruhig, und Johannes fummelte an seinem Verband herum. Schwester Venia stand mit der für sie üblichen gelassenen Grazie hart am Ufer und schien

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