Der Hirte (German Edition)
schwach, um sich dessen zu schämen. Er nahm ihr Gesicht wie durch ein geschliffenes Glas wahr, ihre entschlossen geschwungenen Brauen, ihre dunklen Augen, ihre gerade, elegante Nase, ihren Mund, dessen Lippen blass und rissig und doch feingeschnitten waren: Das Gesicht einer Aristokratin, einer zweiten oder dritten Tochter eines Barons, deren Aussteuer nur für das Kloster gereicht hatte und die daran nicht zerbrochen, sondern gewachsen war, die aus dem Leben genommen worden war und dem Leben doch nicht entsagt hatte. Er hingegen … er hatte nicht nur ent sagt, er war am Leben ver zagt.
Er wandte den Blick ab von ihrer ruhigen Zuversicht und starrte den Fluss hinunter; gerade rechtzeitig, um den Schatten zu sehen, der von einem halb in den Fluss ragenden Baumstamm herunterglitt und mit der Düsternis unter den Bäumen eins wurde.
***
Aus Rainalds Gedächtnis stieg Dielsdorfers Gestalt empor. Dielsdorfer, der Kaufmann; Dielsdorfer, der Ratsherr. Mit ihm kam die Erinnerung an Sommerwärme, an den Geruch von Essen und Blumen, an das Geknatter der Fahnen und Stoffbahnen, die von seiner Burg hingen und in der Brise tanzten.
Er sah Dielsdorfer, wie er die Gesandtschaft aus Trier anführte, sich vor Rainald und Sophia verbeugte, dann mit lässiger Geste den Strom aus Willkommensgeschenken dirigierte, die die Städter vor Rainald und Sophia ausbreiteten (es war ein Haufen Spielzeug dabei, so unübersehbar wie Sophias gerundeter Bauch – Johannes’ Geburt war nicht mehr fern). „Es ist schön, wieder einen neuen Herrn hier zu haben, der für die Sicherheit unserer Wege sorgt“, hörte Rainald Dielsdorfer sagen. „Ich hoffe, die Stadt Trier wird sich als guter Verbündeter und treuer Freund des Herrn von Mandach erweisen, wenn es einmal nötig sein sollte.“
Rainald klopfte ihm auf die Schulter und fuhr dann überrascht zusammen, als die Musiker, die sich zwischen den Städtern versteckt hatten, plötzlich auf ihren Schalmeien zu pfeifen und zu trommeln begannen … Dielsdorfer grinste über seinen eigenen Scherz wie ein gutgelaunter Teufel … und das Getrommel trug Rainalds Erinnerung über zehn Jahre mit sich fort, trug sie in den vergangenen Sommer und setzte sich dort fort, nur dass es das Trommeln von Caesars Hufen auf dem Waldboden war.
Caesars Wiehern riss die gedämpfte Geräuschkulisse aus Vogelgesang, quietschenden Wagenrädern, dem langsamen Schritt und der gemurmelten Unterhaltung eines Dutzends Männer, Knechte und Fuhrleute auf. Der Wagentreck in der Senke geriet ins Stocken, die Männer starrten ihn an. Dann fuhren sie herum und nahmen unwillkürlich Abwehrhaltung gegen die andere Seite ein, und Rainalds Magen drehte sich um. So hätte es sein sollen – wenn der Herr über den Straßenabschnitt, den sie gerade befuhren, mit gezücktem Schwert aus dem Wald gesprengt kam, dann geschah es in Erfüllung seiner Pflicht, die Straße sicher zu halten; und dann lag es nahe, dass sich von der anderen Seite das Gesindel näherte. Das Gesindel bin ich, dachte Rainald. Dann war er unter ihnen, noch bevor sie sich wieder umwenden konnten, Caesar rempelte sie beiseite wie Lumpenpuppen, die Breitseite von Rainalds Schwert knallte dem berittenen Anführer der Bewaffneten ins Gesicht und warf ihn aus dem Sattel, und noch ehe jemand eine weitere Bewegung machen konnte, riss Rainald an den Zügeln, Caesar kam schlitternd zum Stehen und die Spitze von Rainalds Klinge zum Halt am Hals des Anführers des Trecks. Alles erstarrte.
„Wenn ihr seinen Kopf nicht rollen sehen wollt, lasst die Waffen fallen“, keuchte Rainald unter seinem Visier hervor. Es schien, als würde er keine Luft bekommen. Was soll’s, dachte er halb erstickt, irgendwann wird es ihnen sowieso klar. Er klappte das Visier nach oben und atmete krampfhaft ein. Die Augen des Mannes am Arbeitsende von Rainalds Schwert weiteten sich.
„Herr von Mandach“, hauchte er.
„Ratsherr Dielsdorfer“, sagte Rainald und nickte. Dann hob er die Stimme: „Es muss keine Verletzten geben, wenn alle vernünftig sind!“ Der Anführer der Wache auf dem Boden wälzte sich herum und spuckte fluchend einen Zahn aus. „Ich habe ein halbes Dutzend Männer mit Bögen im Wald versteckt. Jeder von ihnen hat sich bereits einen von euch als Ziel ausgesucht.“
„Was habt Ihr vor?“, fragte Dielsdorfer.
Rainald verzog das Gesicht zu einer Grimasse. „Ich nehme mir, was euch gehört“, sagte er.
***
Rainald blieb am Rand der Lichtung stehen. Sie zog eine weite Schneise
Weitere Kostenlose Bücher