Der Hirte (German Edition)
keinerlei Befürchtung zu hegen, dass sie hineinfallen könnte. Rainald stolperte am Ufer entlang, stieß mit dem Ast ins Wasser und schwitzte, obwohl ihm kalt war.
„Sie muss hier irgendwo sein“, sagte er verbissen. Der Ast stieß auf ein Hindernis, das zuerst nachgab und dann Widerstand leistete: Kies. Er zog ihn zurück und stieß ihn in einem losen Kreis um die Stelle herum wieder in den Fluss. Das Ergebnis war das gleiche. „Na also“, knurrte er. Er zog den Ast heraus und musterte die Länge, die nass war.
„Das geht dir bis über die Hüfte“, sagte Schwester Venia. „Wie sollen wir da hinüberkommen?“
„Es ist nicht so tief. Der Ast ist nass von vorhin, als ich keinen Grund gefunden habe.“
Die Klosterschwester verdrehte die Augen. „Hast du schon einmal versucht, Berge zu bewegen?“
Rainald warf ihr einen wütenden Blick zu.
„Mit deinem Glauben, dass das, was du dir wünschst, zur Wahrheit wird, könntest du ganze Landstriche umformen.“
„Wenn ich das könnte, wären wir nicht hier.“
„Nein? Wo wären wir dann?“
„Ich weiß nicht, wo Ihr wärt. Wir und die Kinder wären …“ Rainald brach ab.
Schwester Venia sah ihn so lange an, bis er den Blick senkte. Aus dem Augenwinkel sah er sie nicken. Sie lächelte. Er wollte aufbegehren, doch das Lächeln war weder verächtlich noch mitleidig. Es wirkte fast, als habe sie die Hand ausgestreckt, um die seine kurz zu drücken. Er räusperte sich.
„… anderswo“, vollendete er lahm. „Wir wären … anderswo.“
Er wandte sich ab und steckte den Ast erneut ins Wasser. Dann zog er ihn heraus und stellte ihn neben sich auf den Boden. Der nasse Teil des Astes reichte bis an seinen Oberschenkel. „Kein Problem“, sagte er.
Schwester Venia sagte nichts. Sie trat beiseite, als er den höher gelegenen Teil des Ufers erklomm, und sah ihm zu, wie er die Stiefel auszog und die Pelzlappen von seinen Füßen wickelte. Als er mit seinen bleichen Füßen barfuß im Schnee stand und die Zehen wegen der Kälte einkrümmte, fühlte er sich so verlegen, als habe er sich nackt ausgezogen. Sie schien seine Verlegenheit zu bemerken; sie drehte sich wortlos um und stapfte zu den Kindern hinüber. Rainald sah, wie Johannes den Kopf hob und zu ihr emporlächelte; ärgerlich konzentrierte er sich darauf, die ledernen Beinlinge aufzuschnüren und so weit über die Knie hoch zu rollen, wie er konnte. Er war unangenehm überrascht, wie schnell seine bloßen Füße in der Kälte zu schmerzen begannen. Er hatte in den Stiefeln gefroren und nicht gedacht, dass es noch schlimmer werden konnte. Er krempelte die Leinenhose unter den Lederbeinlingen nach oben, bis sich Stoff und Leder über seinen Knien ballten und zu drücken begannen. Als er zuletzt aufsah, begegnete er Blankas fassungslosem Blick.
„Warum ziehst du dich aus, Papa?“, fragte sie. „Frierst du nicht?“
„Ich ziehe mich nicht ganz aus. Nur die Stiefel und die Hosen.“
„Willst du durch den Fluss waten?“, fragte Johannes.
„Hast du was dagegen?“
„Wir könnten ein Seil ans andere Ufer hinüberschleudern, das würde dir Halt geben.“
„Und womit, du Schlauberger? Hast du Pfeil und Bogen? Oder ich? Hat Schwester Venia eine Armbrust unter dem Habit versteckt?“
„Wir könnten das Seil an deinem Schwert befestigen. Dann besteht auch eine gute Chance, dass es sich drüben im Gebüsch verkeilt.“
„Ich kann das Schwert nicht so weit schleudern“, sagte Rainald etwas ruhiger.
„Es käme auf einen Versuch an“, sagte Johannes und sah sich suchend um. Rainald ballte die Fäuste.
„Außerdem habe ich das Seil bei der Fähre zurückgelassen“, murmelte er. Er kam sich vor seinem eigenen Sohn so dumm vor, dass der Zorn wieder in ihm emporstieg. Johannes zog die Augenbrauen hoch. Rainald versuchte die scharfen Bemerkungen, die ihm als Antworten auf Johannes’ unvermeidliche Kritik durch den Kopf schossen, abzumildern.
„Wer hätte auch gedacht, dass wir es brauchen“, sagte Johannes stattdessen. „Tut mir leid, ich wusste das nicht.“
Rainald blinzelte. Johannes nestelte an seinen Stiefeln herum. „Ich begleite dich“, sagte er.
Glaubst du, du kannst dich auf den Beinen halten in der Strömung, du halbe Portion?, glaubte Rainald zu erwidern und verzog innerlich das Gesicht wegen seiner Boshaftigkeit. Tatsächlich hörte er sich sagen: „Das war eine gute Idee, Johannes. Sie scheitert an meiner eigenen Dummheit. Und nein, du wirst mich nicht begleiten. Es ist zu gefährlich.“
Johannes
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