Der Historiker
ihrer Gegenwart seine Geschichte nicht weitererzählen würde. Wenn ich ihn in seiner Bibliothek aufsuchte, fragte er mich schnell, wie mein Tag gewesen sei, oder wollte meine Hausaufgaben sehen. Ich hatte gleich nach unserer Rückkehr aus Emona heimlich oben im Regal nachgesehen, aber das Buch und die Papiere waren längst von ihrem Platz verschwunden. Ich hatte keine Ahnung, wo er sie versteckt haben mochte. Wenn Mrs Clay ihren freien Abend hatte, schlug er vor, ebenfalls ins Kino zu gehen, oder er lud mich zu Kaffee und Kuchen in das laute Café auf der anderen Seite der Gracht ein. Ich könnte sagen, dass er mir aus dem Weg ging; wenn wir allerdings abends lesend zusammensaßen und ich auf eine Möglichkeit lauerte, ihm Fragen zu stellen, streckte er manchmal die Hand aus, um mir mit einer unbestimmten Traurigkeit im Gesicht über das Haar zu streichen. Dann war ich diejenige, die es nicht über sich brachte, auf die Geschichte zu sprechen zu kommen.
Als mein Vater das nächste Mal Richtung Süden fuhr, nahm er mich wieder mit. Es ging um eine einzige Besprechung, und die war auch noch völlig informeller Natur, so dass sich die lange Reise kaum lohnte, aber er wollte mir die Landschaft zeigen. Dieses Mal fuhren wir mit dem Zug weit über Emona hinaus und entschlossen uns, das letzte Stück den Bus zu nehmen. Mein Vater mochte die öffentlichen Verkehrsmittel und benutzte sie, wann immer es ging; wenn ich heute verreise, denke ich oft an ihn und gehe am Mietwagenschalter vorbei zu Bus oder Bahn. »Du wirst sehen – Ragusa ist kein Ort für Autos«, sagte er, als wir uns an der Metallstange hinter dem Sitz des Busfahrers festhielten. »Setze dich im Bus immer möglichst weit nach vorn, da wird dir nicht so leicht schlecht.« Ich hielt die Stange so fest gepackt, dass meine Knöchel weiß hervortraten; wir schienen zwischen den ringsum sich auftürmenden Haufen blassgrauer Felsen, die in dieser Gegend als Berge dienten, immer wieder abzuheben. »Großer Gott«, sagte mein Vater nach einem schrecklichen Manöver durch eine Haarnadelkurve. Die anderen Fahrgäste wirkten völlig unberührt. Auf der anderen Seite des Gangs saß eine schwarz gekleidete alte Frau und häkelte, das Gesicht von einem Schal eingerahmt, der mit jedem Rütteln des Busses neu zu tanzen begann. »Pass gut auf«, sagte mein Vater. »Gleich siehst du einen der wunderbarsten Ausblicke dieser Küste.«
Ich blickte gehorsam aus dem Fenster und hoffte, dass er es nicht für nötig befinden würde, mir zu viele Instruktionen zu geben. Ich nahm von den Felsenspitzen und den Dörfern, die auf ihnen thronten, in mich auf, was ich konnte. Kurz vor Sonnenuntergang wurde ich mit dem Anblick einer Frau belohnt, die am Wegesrand stand und möglicherweise auf den Bus in die andere Richtung wartete. Sie war groß, in lange, schwere Röcke und eine enge Weste gekleidet, und auf dem Kopf trug sie einen prachtvollen Hut, eine Art Krone, wie ein Organdy-Schmetterling. Im Licht der späten Sonne stand sie allein zwischen den Felsen, neben sich auf dem Boden einen Korb. Ich hätte sie für eine Statue gehalten, wenn sie nicht ihren wunderbaren Kopf gedreht hätte, als wir an ihr vorbeifuhren. Ihr Gesicht war ein blasses Oval, das zu weit entfernt war, als dass ich einen Ausdruck in ihm hätte erkennen können. Als ich sie meinem Vater beschrieb, der sie verpasst hatte, sagte er, dass sie die in diesem Teil von Dalmatien übliche Tracht getragen haben müsse. »Eine große Haube mit Flügeln an jeder Seite? Ich kenne Bilder davon. Man könnte sagen, dass sie eine Art Geist war – wahrscheinlich lebt sie in einem sehr kleinen Dorf. Ich nehme an, dass heutzutage die meisten jungen Leute hier Bluejeans tragen.«
Ich wandte das Gesicht nicht vom Fenster. Es erschienen zwar keine weiteren Geister, aber ich verpasste nicht einen Blick auf das Wunder, das bald folgte: Ragusa lag weit unter uns, eine elfenbeinerne Stadt, an deren Mauern sich die gleißende, sonnenbeschienene See brach, die Dächer hinter der gewaltigen mittelalterlichen Umfassung noch röter als der Abendhimmel. Die Stadt lag auf einer runden Felsenhalbinsel, und ihre Mauern schienen für Meeresstürme und Einfälle undurchlässig zu sein, ein Riese, der in die Adria stieg. Gleichzeitig jedoch hatte sie, aus unserer Höhe betrachtet, etwas Spielzeughaftes, wie etwas Handgeschnitztes, das, jeden Maßstab durchbrechend, an den Fuß der Berge gestellt worden war.
Ein paar Stunden später standen wir in
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