Der Historiker
hier eilig wirkte, wäre auf den Bürgersteigen New Yorks oder Washingtons wie ein Dahinschlendern erschienen. Ich wies Helen darauf hin, und sie lachte. ›Wo sich nicht viel Geld verdienen lässt, hetzt ihm auch keiner nach‹, sagte sie.
Der Kellner brachte uns Brot, einen mit Salatgurkenstückchen angerichteten Jogurt und Gläser mit stark duftendem Tee. Nach den Anstrengungen des Tages ließen wir es uns schmecken und machten uns gerade an Brathähnchen auf hölzernen Spießen, als ein gut gekleideter Mann mit silberweißem Schnurrbart und einem ebensolchen Haarschopf das Restaurant betrat und sich umsah. Er setzte sich an einen Tisch nahe dem unseren und legte ein Buch neben seinen Teller. Er bestellte in leisem Türkisch und schien dann zu bemerken, wie sehr wir unser Essen genossen. Mit einem freundlichen Lächeln lehnte er sich leicht zu uns herüber und sagte in einem akzentuierten, aber hervorragenden Englisch: ›Sie scheinen unser Essen hier zu mögen.‹
›Das tun wir allerdings‹, sagte ich überrascht. ›Es schmeckt ausgezeichnet.‹
›Lassen Sie mich raten‹, sagte er und wandte mir sein gut aussehendes, sanftes Gesicht zu. ›Sie kommen nicht aus England. Amerika?‹
›Ja‹, sagte ich. Helen schwieg. Sie schnitt ihr Hähnchen auf und warf unserem Nachbarn missbilligende Blicke zu.
›Ah, ja. Wie nett. Sie sehen sich unsere schöne Stadt an?‹
›Ja, genau‹, bestätigte ich ihm und wünschte, dass Helen ihn wenigstens freundlich ansähe. Feindseligkeit mochte unnötigen Argwohn erregen.
›Willkommen in Istanbul‹, sagte er und lächelte uns dabei äußerst angenehm zu. Er hob sein Teeglas. Ich hob das meine, und er strahlte: ›Verzeihen Sie die Frage eines Fremden, aber was gefällt Ihnen an unserer Stadt am besten?‹
›Nun, das ist schwer zu sagen.‹ Ich mochte sein Gesicht, und es war mir unmöglich, ihm nicht aufrichtig zu antworten. ›Was mich am meisten beeindruckt ist, wie sich hier in der Stadt Ost und West miteinander vermischen.‹
›Eine kluge Beobachtung, junger Mann‹, sagte unser Nachbar nüchtern und tupfte sich seinen silberweißen Schnurrbart mit der großen weißen Serviette. ›Diese Mischung ist unser Kapital und unser Fluch. Ich habe Kollegen, die Istanbul ihr Leben lang studiert haben und immer noch sagen, dass sie nie genug Zeit haben werden, alle Seiten dieser Stadt zu erforschen – obwohl sie immer hier gelebt haben. Es ist ein erstaunlicher Ort.‹
›Was sind Sie von Beruf?‹, fragte ich neugierig, obwohl ich das Gefühl hatte, dass mir Helen schon in einer Minute unter dem Tisch einen Tritt versetzen würde.
›Ich bin Professor hier an der Universität‹, sagte er mit ehrwürdiger Stimme.
›Oh, was für ein Glück!‹, rief ich aus. ›Wir – ‹ In diesem Moment traf Helens Fuß auf meinen. Sie trug Pumps, wie damals alle Frauen, und der Absatz war ziemlich spitz. ›Wir freuen uns sehr, Sie kennen zu lernen‹, brachte ich meinen Satz zu Ende. ›Was lehren Sie?‹
›Mein Spezialgebiet ist Shakespeare‹, sagte unser neuer Freund und zog vorsichtig seinen Salat zu sich heran. ›Ich unterrichte Doktoranden in englischer Literatur. Es sind sehr fähige junge Leute, muss ich Ihnen sagen.‹
›Wie wunderbar‹, schaffte ich zu sagen. ›Ich sitze selbst an einer Doktorarbeit, aber in Geschichte, in den Vereinigten Staaten.‹
›Eine sehr schöne Wissenschaft‹, sagte er ernst. ›Da werden Sie in Istanbul viel Interessantes finden. An welcher Universität sind Sie?‹
Ich nannte den Namen, während Helen grimmig auf ihr Essen starrte.
›Eine ausgezeichnete Universität. Ich habe von ihr gehört‹, sagte der Professor. Er nahm einen Schluck aus seinem Teeglas und klopfte auf das Buch neben seinem Teller. ›Hören Sie!‹, rief er schließlich. ›Warum besichtigen Sie nicht unsere Universität, während Sie in der Stadt sind? Sie ist ebenfalls eine ehrwürdige Institution, und ich würde mich freuen, Sie und Ihre liebenswerte Frau herumführen zu dürfen.‹
Ich bemerkte, wie Helen leicht schnaufte, und beeilte mich, für sie zu antworten: ›Meine Schwester… meine Schwester.‹
›Oh, ich bitte um Entschuldigung.‹ Der Shakespeare-Spezialist machte eine Verbeugung in Helens Richtung. ›Ich bin Dr. Turgut Bora, ganz zu Ihren Diensten.‹ Wir stellten uns ebenfalls vor, das heißt, ich stellte uns vor, da Helen immer noch trotzig schwieg. Es schien ihr nicht zu gefallen, dass ich meinen richtigen Namen nannte, und so
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