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Der Historiker

Der Historiker

Titel: Der Historiker Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Elizabeth Kostova
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lieben Tischgefährten‹, sagte er. ›Ich denke, wir sollten ohne größere Umschweife miteinander reden.‹«
     
     
    Fast wäre ich auf meinem Platz eingeschlafen, obwohl ich an der Geschichte meines Vaters doch brennend interessiert war. In der Nacht zuvor hatte ich mit dem Lesen nicht aufhören können, und jetzt war ich müde. Ein Gefühl von Unwirklichkeit ergriff mich in meinem sonnigen Abteil, und ich drehte mich zum Fenster, um die gepflegten holländischen Felder vorbeiziehen zu sehen. Wann immer wir uns einem Ort näherten oder ihn verließen, passierte der Zug eine Reihe kleiner Gemüsegärten, die umso grüner wurden, wenn gerade eine Wolke darüberzog – die Gärten Tausender Menschen, die ihren eigenen Geschäften nachgingen und deren Grundstücke an die Bahngleise angrenzten. Die Felder waren von jenem wunderbaren Grün, dass in Holland zu Beginn des Frühlings Einzug hält und fast bis zum ersten Schnee hält, genährt von der Feuchte der Luft und der Erde und vom Wasser, das in der Sonne glitzert, wohin man auch blickt. Wir ließen ein großes Gebiet mit Kanälen und Brücken hinter uns und kamen nun an sauber umzäunten Kuhweiden entlang. Ein altes Paar fuhr mit dem Fahrrad die Straße neben uns entlang und wurde auch schon wieder von neuen Weiden verschluckt. Bald würden wir in Belgien sein, das man, wie ich wusste, auf dieser Reise völlig verpassen konnte, wenn man nur ein kurzes Nickerchen machte.
    Ich hielt die Briefe fest auf meinem Schoß, aber die Augenlider wurden mir schwer. Die freundlich wirkende Frau mir gegenüber war mit einer ihrer Zeitschriften in der Hand bereits eingeschlummert. Meine eigenen Augen hatten sich gerade für Sekunden geschlossen, als die Tür zu unserem Abteil aufgerissen wurde. Eine verzweifelte Stimme drang herein, und eine schlanke Gestalt drang zwischen mich und meinen Tagtraum. »Es ist wirklich kaum zu glauben! Hab ich’s mir doch gedacht. Jedes einzelne Abteil habe ich nach dir abgesucht.« Es war Barley, der sich die Stirn abwischte und mich finster anblickte.

 
    26
     
     
     
    Barley war wütend. Ich konnte ihm keinen Vorwurf machen, aber auch für mich nahmen die Ereignisse mit seinem Auftauchen eine höchst unangenehme Wendung, was mich ebenfalls wütend machte. Und was mich noch mehr aufbrachte, war die Tatsache, dass meinem ersten Ärger ein Gefühl der Erleichterung folgte. Bevor Barley aufgetaucht war, war mir nicht wirklich bewusst gewesen, wie einsam ich mich in diesem Zug fühlte, der dem Ungewissen und einer vielleicht noch größeren Einsamkeit entgegenfuhr, falls ich meinen Vater nicht fand; eine Einsamkeit, die absolut grenzenlos würde, sollte ich ihn für immer verlieren. Vor ein paar Tagen noch war Barley ein Fremder für mich gewesen, aber jetzt bedeutete der Anblick seines Gesichts Vertrautheit.
    In diesem Moment jedoch sah er mich immer noch finster an. »Was zum Teufel denkst du dir eigentlich? Du hältst mich ganz schön auf Trab. Was hast du vor?«
    Fürs Erste ging ich der letzten Frage aus dem Weg. »Ich wollte dir keinen Ärger bereiten, Barley. Ich dachte, du wärst längst wieder auf der Fähre und würdest nie davon erfahren.«
    »Ja, stell dir vor: Ich komme zurück zu Rektor James, sage ihm, alles ist in Ordnung, und dann erfahren wir, dass du verschwunden bist. Da wäre er wirklich zufrieden mit mir.« Damit ließ er sich auf den Platz neben mir fallen, verschränkte die Arme und schlug die langen Beine übereinander. Er hatte seinen kleinen Koffer dabei, und das strohblonde Haar stand ihm in die Höhe. »Was ist nur in dich gefahren?«
    »Warum hast du mir hinterherspioniert?«, konterte ich.
    »Die Fähre hatte wegen Reparaturarbeiten Verspätung.« Offenbar konnte er ein Lächeln nicht unterdrücken. »Ich hatte Hunger wie ein Pferd, also bin ich zurück in die Stadt gegangen, um mir ein paar Brötchen und einen Tee zu kaufen, und dann kam es mir plötzlich so vor, als hätte ich dich gesehen, wie du in eine komische Richtung liefst, aber ich war mir nicht sicher. Ich dachte, ich hätte mir das nur eingebildet, und kaufte mir erst mal mein Frühstück. Aber dann quälte mich mein Gewissen, denn wenn das tatsächlich du gewesen warst, dann konnte großer Ärger auf mich zukommen. Also nahm ich denselben Weg und sah den Bahnhof und dann, wie du in diesen Zug stiegst. Ich dachte, mir bliebe das Herz stehen.« Er blickte mich wieder an. »Du hast es mir nicht einfach gemacht heute Morgen. Ich musste mir schnell eine

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